BFF
Nun ist es soweit. Ich mache meinen Schrank auf und nehme den schwarzen Rock, die schwarze Leggings, das schwarze T-Shirt und die schwarze Jeansjacke heraus und lege alles auf mein Bett. Eigens für diesen Anlass habe ich mir das Outfit zugelegt.
Ich finde eigentlich, dass ich mit siebzehn Jahren dafür noch zu jung bin. Aber, wer fragt mich denn schon? Zum Glück habe ich mich noch nicht geschminkt, sonst müsste ich wieder von vorne anfangen. Am besten, ich lasse es heute ganz sein. Ich gehe zum Nachttisch und hole eine Packung Taschentücher raus, mindestens die dreißigste Packung in den letzten paar Tagen. Ich schaue auf das eingerahmte Bild, das meinen Nachttisch ziert. Es zeigt uns in unserem ersten und letzten gemeinsamen Urlaub in Norwegen. Wir sind zum ersten Mal ohne Eltern losgewesen – so nice! Was für ein mega Urlaub. Keine Macht der Welt kann uns auseinanderbringen. So haben wir gedacht. Ach Ella – eine hat es doch geschafft. Die „Dementoren“ haben ihre Arbeit leider gut gemacht. Jegliches Leben ist auch aus mir rausgesaugt worden.
Wir kennen uns ein Leben lang schon – jedenfalls seit ich mich erinnern kann, sind wir unzertrennlich und gehen gemeinsam durch dick und dünn. Bis zum Schluss.
Ich kann das nicht!
Ich stehe wieder auf und gehe zurück zum Schrank. Ich nehme das knallpinke T-Shirt vom Stapel, schlurfe zurück zum Bett und setze mich auf die Bettkante. Ich halte das T-Shirt in den Händen und starre das Stück Stoff an.
Unser T-Shirt! In den letzten Wochen konnte ich den Gedanken daran nicht ertragen. Allein die Erinnerung lässt mich würgen. Behutsam streiche ich immer wieder über die schwarze Glitzerschrift: „BFF- best friends forever“.
„Ey, wie früher, Mila“, hast du gesagt, als du das T-Shirt bei „Clothes“ in unserem Norwegenurlaub erblickt hast.
Du bist hin und weg gewesen und hast darauf bestanden, dass wir es uns gegenseitig kaufen. Ich wollte erst gar nicht. Ich fand das Knallpink so grässlich. Ich höre noch dein lautes Lachen und sehe vor mir, wie du es mir anhältst.
„Hey Mila, das steht dir mega. Dieses Knallpink passt perfekt zu deinen schwarzen Haaren und den braunen Augen. Los komm‘ schon, meine BFF.“ Deine Stimme hat sich in mein Gehirn gebrannt. Hoffentlich bleibt es ewig so.
Dein Tatendrang ist schon immer ansteckend gewesen. Und ehe ich mich versah, bist du schon Richtung Kasse gegangen. Ich habe mir dann auch noch schnell eines geschnappt und bin dir hinterhergerannt. Nach dem Bezahlen haben wir uns in der Umkleidekabine umgezogen und dann lachend mit den knallpinken und schwarzer Glitzerschrift versehenen „BFF“- T-Shirts das Geschäft verlassen. Weißt du noch, Ella, als wir zurück auf dem Zeltplatz waren? Wir haben mit diesen affigen T-Shirts für Lacher gesorgt und Toni hat dann dieses Foto von uns im Sonnenblumenfeld gemacht… ach Ella!
Ich streiche erneut mit meinen Fingern über die Glitzerschrift und drücke dann das T-Shirt an meine Brust. Eine gefühlte Ewigkeit sitze ich auf der Bettkante. Eine gefühlte Ewigkeit bin ich mit dir verbunden.
„Mila, wir müssen gleich los“, ruft meine Mutter durchs Haus und holt mich wieder zurück ins Hier und Jetzt.
Ich nehme das Bild vom Nachttisch und küsse dich auf das knallpinke „BFF- best friends forever“- T-Shirt.
„Mila, versprich mir, dass du nicht zulässt, dass die Trauer dich auffrisst. Lebe dein Leben, geh‘ raus und genieße es! Ich hab‘ dich lieb bis ins Universum und zurück…und ich danke dir für alles, meine BFF!“, sind deine letzten Worte an mich gewesen.
Ich konnte nichts erwidern, bitte entschuldige Ella. Mein Sprachzentrum hat sich einfach, ohne mich zu fragen, verabschiedet. Das Einzige, was ich an dem Tag tun konnte, war, deinen Kopf zu streicheln. Er hat deine wunderschönen blonden Haare nach und nach verschlungen, aber dein zauberhaftes Lächeln und deine liebevollen, fröhlichen, grünen Augen hast du ihm nicht gegeben. Und das, obwohl die Ärzte gesagt haben, dass du deinen achtzehnten Geburtstag wohl nicht mehr erleben wirst. Sie haben leider Recht behalten.
„Ella, lass mich noch etwas trauern um dich, und dann, ich verspreche es dir, werde ich wieder rausgehen und das Leben genießen“, bitte ich und stelle das Foto zurück auf den Nachttisch.
Ich ziehe mich, wie ferngesteuert, an und betrachte mich im Spiegel. Ich lächele mir aufmunternd zu, oder besser gesagt, ich versuche es. Ich habe das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wie das geht. Meine Mundwinkel zucken. Mit Lächeln hat es nicht viel zu tun. Ich hole tief Luft und atme laut aus. Ich versuche mich auf den bisher schwersten Gang meines Lebens vorzubereiten. Doch es gelingt mir nicht wirklich. Wie auch!
Ich nehme die Sonnenblume aus der Vase, die auf meinem Schreibtisch steht. Meine zittrigen Finger stopfen den Brief in die Jackentasche. Lange habe ich noch gestern Abend auf das Pferdebriefpapier, welches du mir zum achten Geburtstag geschenkt hast, gestarrt. Ein paar Bögen habe ich damals für ganz besondere Anlässe aufsparen wollen. Jetzt ist wohl so ein ganz besonderer Anlass.
Ich habe dir noch so viel zu sagen, aber meine Finger haben den Füller einfach nicht führen und Buchstaben auf Papier zaubern können. Nach gefühlten tausend Stunden habe ich es dann einfach sein gelassen und bin schlafen gegangen. Naja, wenn man es Schlafen nennen kann. Und dann sind mir plötzlich, mitten in der Nacht, die Worte in den Sinn gekommen. Ich habe mir alles von der Seele geschrieben. Angefangen von unserer wundervollen Kindheit und Freundschaft bis hin zu dieser Teufelskrankheit, die dich mir einfach ungefragt weggenommen hat.
„Es tat so gut, dir wieder so nah zu sein, Ella. Fast wie früher- so als hätten wir die Nacht durchgequatscht“, spreche ich meine Gedanken laut aus. Das Pferdebriefpapier ist nun aufgebraucht. Ich glaube, so einen langen Brief habe ich noch nie geschrieben.
Ich drücke die Türklinke nach unten, dabei bleibt mein Blick auf dem Poster an der Zimmertür hängen. Du bist so irre gewesen, typisch Ella. Für jeden Spaß zu haben. Nein, du wolltest bei der Mottoparty von unserem Jahrgang nicht Hermine sein.
„Hey, Ron und Harry sind beste Kumpel – so wie wir“, hast du gesagt und als du mich dann abgeholt hast, bin ich fast in Ohnmacht gefallen.
„Perücken sind was für Loser!“, hast du mich begrüßt und dich dabei diebisch gefreut. Deine feuerrotgetönten Haare haben dich noch einige Wochen lang begleitet. So bist du halt– keine halben Sachen.
„Ach Ella, ich hab‘ dich so lieb- und du bist und bleibst meine beste Freundin!“, höre ich mich sagen und mache mich auf den Weg in die Küche.
„Hey Mila, bereit?“ Meine Mutter nimmt mich in den Arm und drückt mich ganz fest. Ich glaube, sie will mich gar nicht mehr loslassen. Sie zieht ihre Nase hoch.
„Ich glaube, das kann ich gar nicht sein.“ Meine Augen füllen sich erneut mit Tränen.
„Bleibst du so?“ Ihr Blick scannt mich.
„Ja!“ So entschlossen bin ich noch nie gewesen.
Meine Mutter nickt und lächelt mich an.
Vor der Auferstehungskapelle nimmt meine Mutter meine Hand und drückt sie sanft.
„Du schaffst das!“, flüstert sie mir zu.
Wir gehen Hand in Hand, wie früher als ich Kind war, hinein und setzen uns in die zweite Reihe.
Die Trauerfeier beginnt. Als ich an der Reihe bin, gehe ich nach vorne und lege behutsam die Sonnenblume auf dem Rednerpult ab. Meine Knie und Hände zittern im Kanon. Ein Meer von verweinten Augen ist auf mich gerichtet. Ich schlucke. Oh nein – ich werde wohl kein Wort rausbringen. So wie bei unserem letzten Treffen. Meine Finger tasten hastig nach dem Brief. Doch dann lasse ich ihn, wo er ist. Der Brief gehört nur uns Beiden. Ich hole tief Luft und schließe für einen kurzen Moment die Augen. Die Sonnenstrahlen kitzeln mein Gesicht und plötzlich ist die Kälte in mir verschwunden. Ich öffne die Augen und schaue auf deinen Sarg voller bunter Blumen.
„Danke Ella für die Sonnenstrahlen“, beginne ich und lächele – ich weiß wieder, wie es geht. „Liebe Ella,“, fahre ich fort. Vor meinem inneren Auge sehe ich meine fröhliche und lebenslustige Ella. Wir sind wieder vereint. „Seit ich denken kann, kenne ich dich. Wir haben so viel erlebt. Erinnerst du dich an die Prinzessinnen-Sandburg im Kindergarten?… Oder an unsere Grundschulzeit mit Frau Klugmeier?… Weißt du noch die Englischarbeit in der Achten? Unser Spickzettel war legendär!… Und unsere Harry Potter Nächte waren einmalig…“ Ich schenke der Trauergemeinde ein Potpourri unser besten Geschichten. Zwischendurch muss nicht nur ich auflachen. Was haben wir für einen Spaß miteinander gehabt. „Und unsere Norwegenreise im Sommer ist der Hammer gewesen! Unser krönender Abschluss – ohne dass wir es wussten!“ Ich streiche mir über das knallpinke T-Shirt mit der schwarzen Glitzerschrift „BFF- best friends forever“.
„Ella, rock den Himmel und feiere eine ordentliche Party mit den Engeln da oben. Ella, meine BFF, ich danke dir für diese wundervolle Freundschaft. Die kann uns keiner nehmen. Nicht einmal der Tod!“ Mit einem Lächeln auf den Lippen lege ich die Sonnenblume und den Brief auf deinen Sarg.