Beförderungsmord
„Wir brauchen einen Mord.“
Thomas nippt an seinem Bier und sieht über den Glasrand seinem Freund und Kollegen beim Sich-vor-Schreck-Verschlucken zu.
„Was?“ Rüdiger hustet sein Bier quer über den Tisch.
„Einen Mord.“ Thomas lehnt sich nach vorn und sieht Rüdiger in die Augen. „Uns nimmt keine Sau ernst. Die lachen über uns! Wir sind die einzige Dienststelle im Umkreis, die noch nie einen Mord bearbeitet hat.“
Er macht eine Kunstpause wie im Verhör.
„Weißt du, wie sie uns nennen?“
Zweite Kunstpause.
„Bullerbü!“
„Ich komme ganz gut ohne Mord aus,“ wendet Rüdiger ein. Er fummelt ein benutztes Taschentuch aus seiner Hose und verschmiert die Bierpfützen zu einem Biersee. „Ich gehe ja auch so langsam auf die Pensionierung zu.“
Thomas betrachtet die ungelenke Reinigungsprozedur wie Schaulustige einen Unfall. Eklig, aber Wegsehen geht irgendwie auch nicht.
„Aber ich nicht!“, sagt er, den Blick auf das zerkrümelte Taschentuch gerichtet, das konzentrische Kreise zieht. „Gerade mal Mitte vierzig bin ich, in der Blüte meines Lebens! So ohne Mord werde ich doch niemals befördert und nichts.“
„Und wie stellst du dir das so im Einzelnen vor?“ Rüdiger unterbricht seine Reinigungsbemühungen. „Willst du fragen, ob sich jemand freiwillig meldet?“ Das war unvorsichtig. Hilflos versucht er, die Worte wieder einzufangen, was natürlich nicht gelingt. Ab jetzt steckt er mit drin.
„Nein, wir müssen natürlich ein Opfer aussuchen“, erwidert Thomas weltmännisch, wirft sich in die Brust und in den Stuhl, der zu gleichen Teilen verlegen wie bedrohlich knarrt.
„Dein Plan hat einen ganz entscheidenden Fehler.“ Jetzt ist Rüdiger in seinem Element, in Seminaren tausendfach erprobt, in der Wirklichkeit kaum angewendet: Das Gegenüber auf Widersprüche hinweisen. „Du musst den Mord ja auch aufklären. Und dann ermittelst du gegen dich selbst oder was? Oder wer soll das machen, diesen Mord?“ Selbstgefällig lehnt er sich zurück und nippt an seinem Bier. Er nippt und nippt, sieht auf und erschrickt, als ihn eine böse Ahnung wie ein Tsunami überrollt. „Thomas, nein, schau mich nicht so an. Das mache ich nicht.“
„Wäre eine coole Idee, darauf bin ich noch gar nicht gekommen.“ Thomas hält die Spannung bis zu dem Punkt aufrecht, an dem er fürchtet, dass sich das frisch Genippte erneut auf dem Tisch ausbreiten wird. „Nee Quatsch, sollst du ja auch nicht. Wir müssen natürlich einen Täter aussuchen. Wir brauchen ein Scoring-Modell.“
„Ein was?“
„Eine Auflistung der Eigenschaften, die uns bei Opfer und Täter wichtig sind, und die Gewichtung der Kriterien.“
„Ah.“ Rüdiger ringt um Fassung und versucht, sich zu konzentrieren.
„Pass auf.“
„Ich passe. Auf.“
„Musst du jetzt wirklich. Ist auch gar nicht so knifflig.“
„Ah“, macht Rüdiger erneut. Es ist ein resigniertes Ah. Viel Widerstand ist nicht mehr zu erwarten, der größte Teil ist im Bier ertränkt. Er lehnt sich zurück und lässt sich berieseln.
„Es ist zum Beispiel sehr wichtig“, setzt Thomas lehrerhaft an, „dass das Opfer ohnehin nicht mehr sooo lange zu leben hat. Sehr krank ist zum Beispiel. Oder sehr alt. Das halte ich für sehr wichtig. Und schön wäre auch, wenn das Opfer ohnehin niemand leiden kann. Das wäre so mittelwichtig. Und dass das Opfer ein bisschen doof ist, damit das mit dem Mord nicht so schwierig wird, ist auch noch wichtig, aber nicht mehr so. Kannst du mir folgen?“
Rüdiger nickt. Zumindest meint er, dass er nickt.
Thomas nimmt ein Blatt und notiert:
Kriterium | Punkte | potentielles Opfer A | Gewichtung | Gesamtpunkte |
alt | 10 | | | |
unsymp. | 6 | | | |
| 4 | | | |
„Also, da fällt mir jetzt nur die alte Käthe ein.“ Rüdiger ist aufgewacht und bei der Sache. „Die hat bei Alter eine glatte 10, bei unsympathisch eine 9,5 und bei doof bringt sie es locker auf eine 8.“
„Soll ich das mal durchrechnen?“ fragt Thomas, beugt sich über seinen Block und ergänzt.
„Ist gebongt“, vermeldet er mit einem zufriedenen Blick auf die Tabelle, „das sind 189. Wir nehmen Käthe.“
„Aber du hast doch niemanden sonst zur Auswahl. Keine Alternative. Nur Käthe.“
„Na und. Passt doch. Und 189 ist jetzt echt ein Bombenwert. Ich wette, Käthe hat in ihrem Leben noch nie irgendwo gewonnen. Und jetzt auf einmal – zack - Hauptpreis.“
„Ich weiß nicht, ob man das Hauptpreis nennen kann“, wirft Rüdiger ein und denkt jetzt doch wieder an Couch und Bett, „wollen wir das nicht lassen und nach Hause gehen?“
„Nee, läuft doch gerade so gut. Wer soll der Täter sein?“
„Ach Mensch Thomas, was weiß ich…“
„Komm, mach mit, umso schneller sind wir fertig und du kannst heim ins Bettchen. Also hopp, Täter, was ist wichtig?“
Rüdiger gibt sich geschlagen. „Ja, auch unsympathisch, das fände ich gut. Und dass er vielleicht schnell wieder rauskommt – oder gar nicht erst rein.“
„Ein Kind!“, ruft Thomas begeistert dazwischen.
„Nee, Thomas, Kind kannst du nicht bringen, dann steige ich aus. Vielleicht so irgendwas mit der Psyche und nicht schuldfähig, so etwas wäre gut.“
„Der komische Harry, der mit der Baumrinde spricht, so etwas?“
„Ja, der ist gut!“ Rüdiger fällt auf, dass sich gerade die Rollen vertauscht haben und ist verwirrt.
„Brauchen wir noch ein Scoring?“ fragt Thomas.
„Nein, ist ja alles klar. Die Auswahl ist ja auch hier überschaubar.“
„So, damit sind die Protagonisten schon mal klar. Wird auch für den komischen Harry was Neues, da ist mal so richtig was los in seinem Leben!“ Thomas ist begeistert, wie der Plan Formen annimmt.
Er notiert auf seinem Zettel:
Täter: der komische Harry
„Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen, wann und wo und wie der Mord stattfinden soll.“
„Das geht ja, das ist ja nun echt nicht mehr viel.“ In Rüdigers Stimme mischen sich Ironie und Müdigkeit. Kein guter Cocktail.
„Komm, ich mach mal Vorschläge, und du sagst gut oder doof“, schlägt Thomas vor.
„Meinetwegen.“ Rüdigers innere Armee ist desertiert.
„Hier ist Vorschlag eins. Der komische Harry klopft bei Käthe und macht so eine Enkeltrick-Nummer.“
„Käthe hat keine Kinder. Und Harry macht das doch auch nicht selbst, oder? Das müssen wir doch machen.“
„Du hast recht. Da ist tatsächlich ein Bug. Also brauchen wir zunächst eine Situation, in der Harry kein Alibi hat. Und um den Verdacht auf ihn zu lenken, brauchen wir eine Spur, die nur zu ihm führt.“
„Wir verteilen Baumrinde vor Käthes Tür. Schreib das mal auf. Und schreib auch auf, dass wir dafür Handschuhe anziehen müssen. Und Gummiklamotten, so Anglerzeug oder so. Wegen der Faserspuren.“
Thomas nickt zustimmend und notiert.
„Fällt ja zum Glück auch überhaupt nicht blöd auf, wenn wir in Anglerklamotten durch den Ort laufen“, hinterfragt Rüdiger seinen eigen Plan kritisch. „Ist echt kompliziert. Wir brauchen also einen Tag mit Angelwetter, also so einen Wetterumschwungstag. Am besten einen Wetterumschwungstag und Neumond.“
Thomas notiert auch das.
„Das wird gut! Das ist wasserdicht!“ Er hat seine bevorstehende Beförderung schon vor Augen. „Jetzt brauchen wir nur noch die Mordwaffe!“
„Bitte nichts mit Blut! Ich kann kein Blut sehen!“ Rüdiger wirft Thomas über sein Bierglas hinweg einen flehenden Blick zu.
„Du kannst den Dackelblick abstellen. Wir machen irgendwas mit Medikamenten. Klingeln bei Käthe und bringen ihr als Geschenk irgendein Giftzeug, sagen, dass das gut für die Augen ist. Fertig. Kein Blut.“
„Das Gift darf aber nicht riechen wie Gift und auch nicht nachweisbar sein.“ „Doch, klar kann das nachweisbar sein. Muss sogar! Soll ja kein Unfall sein, sondern Mord. Konzentrier dich bitte, Rüdiger.“
„Ich geb mir ja Mühe“, gibt Rüdiger getroffen zurück. „Was haben wir denn da jetzt stehen?“
„Warte, ich ergänze gerade noch“. Thomas macht eine letzte Notiz und überreicht Rüdiger seinen Notizzettel.
Rüdiger liest. „Das könnte tatsächlich klappen. Was kriege ich eigentlich fürs Mitmachen?“
„Einen Freund fürs Leben!“
Die Kneipentür geht auf. Ein hochgewachsener Mann, jünger, als seine grauen Haare es vermuten lassen, betritt den schummrigen Raum.
„Ach du Scheiße, der Schnappach-Meyer! Die hatten da geschlagene drei Morde in den letzten Jahren! Lass den Zettel verschwin….. NEIN! Nicht so.“
Rüdiger kaut angestrengt und schluckt, als Schnappach-Meyer an ihren Tisch tritt.
„Na, Jungs, Feierabend-Bier? Was ist mit euch, ihr seid schrecklich blass. Leichenblass, möchte man sagen.“ Schnappach-Meyer lacht blechern. „Wir hatten neulich wieder ein Mordopfer, das hatte mehr Farbe im Gesicht als ihr.“
***
Rüdiger konnte gut schlafen in dieser Nacht.
Thomas verbrachte im Anschluss an diesen Abend zwei Wochen arbeitsunfähig. Er sollte sich nie wieder vollständig von den Ereignissen dieser Nacht erholen.
Er ist für seine Kollegen von außerhalb weiterhin der Bullerbü-Thomas und klärt mit einer Quote von durchschnittlich 68 Prozent Handtaschendiebstähle auf.
Käthe und der komische Harry werden nie erfahren, dass sie für knapp zweieinhalb Stunden die Hauptpersonen in einem Mordfall waren.
Käthe lebt heute in einem Seniorenheim in Brunsbüttel.
Der komische Harry hat eine Ausbildung zum Holzwerker abgeschlossen.
Er wird in seinem Leben nie einen Mord begehen.