Die Bahnfahrt
Nur noch drei Stationen.
Innerlich war er ruhig, auch wenn sein Körper ihn ziemlich penetrant vom Gegenteil zu überzeugen versuchte. Bereits zu seinen Schulzeiten hatte er unbewusst immer mit seinem rechten Bein gezappelt, wenn er nervös war. Er war geradezu machtlos dagegen. Manchmal war es nur ein leichtes Wippen. Manchmal, so wie jetzt, ein schnelles Auf und Ab, so als versuchte er, mit seiner Ferse ein Loch in den Boden der Straßenbahn zu stampfen. Die einzigen Gegenmittel waren Bewegung, Sport, ein Spaziergang, doch er konnte noch nicht aussteigen. Er musste bis zu seiner Zielstation Rathaus fahren, auch wenn er sich insgeheim wünschte, die ihm bevorstehende Angelegenheit nicht erledigen zu müssen. Er versuchte, sich zu konzentrieren und den Text noch einmal in seinen Gedanken durchzusprechen. „Moin, mein Name ist …“
Tapp, Tapp, Tapp.
Dieses verdammte rechte Bein machte ihn wahnsinnig.
Nur noch zwei Stationen.
Er bekam sein Bein nicht in den Griff, auch nicht, indem er versuchte, es mit seinen feuchten Händen nach unten zu drücken. Wenigstens konnte er die Oberfläche seiner Jeans so als Handtuch zum Trocknen verwenden. Dabei wusste er, dass diese Nervosität überhaupt nicht notwendig war, schließlich hatte er sich bestmöglich vorbereitet. Nachdem sich alles so abrupt verändert hatte, bestanden die ersten Wochen hauptsächlich aus Verleugnung. Er schob es so lange auf, bis sein Stolz durch Notwendigkeit ersetzt wurde und er für sich die alles verändernde Entscheidung getroffen hatte, zu der er jetzt auch stehen wollte. Sein Körper schien ihm das nur nicht glauben zu wollen. Viele vor ihm waren diesen Weg bereits gegangen, wieso sollte es bei ihm nicht klappen? Das erste Mal war schließlich immer am schwersten und kostete die meiste Überwindung. Das war doch nur menschlich. Und jetzt war es so weit, also was sollte dieses nervige Gezappel? Der Text saß, er hatte sich die Haare ordentlich gekämmt, seinen Bart gestutzt, seine besten Klamotten angezogen und sich sogar neue Schuhe für den heutigen Anlass besorgt.
Tapp, Tapp, Tapp.
Nun ja, nicht ganz neu. Er hatte sie gebraucht bekommen mit einem kleinen Loch an der rechten Ferse, aber das fiel sicher niemandem auf.
Nur noch eine Station.
Er stellte ohne große Überraschung fest, dass er einer der wenigen Menschen war, die sich überhaupt umschauten. Jeder Einzelne seiner Mitfahrer kämpfte sich, genau wie er, tagtäglich durch diesen Großstadtdschungel. Anstatt sich mit Macheten einen Weg durch das Gestrüpp zu hacken, war Ignoranz das bevorzugte Werkzeug. Kopfhörer signalisierten, dass sie allein und ungestört sein wollten. Der mechanische Blick nach unten in das Smartphone zeigte allen anderen, dass sie Besseres zu tun hatten, als sich mit ihrer Umwelt zu befassen. Unauffällige Individualisten, überhaupt nicht mehr individuell in diesem Gewimmel von geschäftstüchtigen Ameisen.
Tapp, Tapp, Tapp.
Sich über seine Mitfahrer aufzuregen, brachte ihn auch nicht weiter, also versicherte er sich mit einem kurzen Blick in das gegenüberliegende Fenster noch einmal, dass er einen ordentlichen Eindruck machte. Er sah auffällig unauffällig aus und wirkte irgendwie ein bisschen durchsichtig. Doch er durfte nicht mehr unsichtbar sein, er musste sichtbar werden, um sein Leben wieder in die richtige Richtung zu lenken. Er musste der Sache wirklich eine Chance geben, es war wichtig für ihn.
Tapp, Tapp, Tapp.
Die mechanische Stimme aus dem Lautsprecher kündigte Rathaus als nächste Haltestelle an. Ausstieg in Fahrtrichtung links.
Er atmete tief durch und stand auf. Jetzt gab es kein Zurück mehr, er würde zu seiner Entscheidung stehen. Seine Hand wanderte suchend in das Dunkel seiner linken Hosentasche. Er umklammerte ein paar Münzen, nahm diese heraus und klimperte ein wenig damit, um die Aufmerksamkeit der unaufmerksamen Masse zu erregen.
„Moin, mein Name ist Sven. Entschuldigen Sie bitte die Störung! Ich lebe seit Kurzem auf der Straße und wenn Sie vielleicht etwas zu essen oder zu trinken oder ein bisschen Kleingeld übrig haben, würden Sie mir wirklich sehr helfen. Dankeschön. Entschuldigen Sie bitte noch einmal die Störung.“
Sein Bein hatte aufgehört zu zappeln. Sven machte sich gemächlich auf den Weg durch die endlosen Reihen der Bahn, einer besseren Zukunft entgegen. Tapp. Tapp. Tapp.