Schweigen
Als sie ins Auto steigt, hat Gesa nicht die Absicht, jemanden zu töten. Sie hofft auf einen ruhigen Dienst ohne Zwischenfälle. Bei Frau Löbel ist alles glatt gelaufen: kleine Körperpflege, Kompressionsstrümpfe anziehen, Medikamentengabe. Doch als Nächstes steht ein neuer Klient auf dem Einsatzplan: Herr Hufnagel. Kein besonders häufiger Name. Wieder stellt sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengrube ein. Als Gabi ihr am Telefon den Neuzugang angekündigt hat, hat sie sich nicht getraut, nach dem Vornamen zu fragen. Wie alt wäre er jetzt? Mitte siebzig? Sie atmet tief durch, bevor sie den Motor startet. Sicher ist der Name nur zufällig derselbe. Und wenn nicht?
In ihrem alten Job auf der Kinderstation wäre das nicht passiert. Aber das Krankenhaus ist letztes Jahr geschlossen worden. Die Arbeit im ambulanten Pflegedienst fällt ihr schwerer als gedacht. Nicht, weil es anstrengender ist, statt eines Kindes einen alten Menschen vom Rollstuhl ins Bett zu heben, sondern weil es bei ihren Klienten kaum Aussicht auf Besserung gibt. Es ist wie ein Blick in ihre eigene Zukunft: Sie lebt allein, hat keine Kinder. Niemand wird sich um sie kümmern, wenn sie selbst alt und gebrechlich ist.
Als sie die Tür zu seiner Wohnung aufschließt, schlägt ihr der muffige Geruch von altem Mann entgegen.
„Guten Morgen, Herr Hufnagel, ich bin Schwester Gesa”, ruft sie, während sie die angelehnte Schlafzimmertür aufstößt. Er sitzt im Bett und hat die Decke bereits zurückgeschlagen.
„Schwesterchen, duzen Sie mich gern. Ich bin Werner.”
Sie versucht zu lächeln, aber es gelingt ihr nicht. In ihren Ohren rauscht Blut. Sie sieht ihm direkt ins Gesicht: unter dem schütteren, weißen Haar, den Falten, der fleckigen Haut ist es derselbe Werner Hufnagel wie vor über fünfundzwanzig Jahren. Ein Möchtegern-Casanova, der mit seinem bereits angegrauten Freddy-Mercury-Schnurrbart und dem schiefen Lächeln ihre Mutter um den Finger gewickelt hatte.
Für die sechzehnjährige Gesa bestand das Leben damals aus Schule, Hausarbeit und ihrem Nebenjob im Supermarkt. Als Werner bei ihnen einzog, war sie anfangs erleichtert, dass er sich nicht als Ersatzvater aufspielte. Wenn sie sich mit ihrer Mutter stritt, behandelte er sie nicht wie ein trotziges Kind, sondern nahm sie in Schutz:
„Sie ist fast eine erwachsene Frau, rede nicht so mit ihr!”
Im Nachhinein hatte sie sich immer wieder gefragt, warum sie diese Warnsignale übersehen hatte.
Als sie ihm in den Rollstuhl hilft, glaubt sie für einen Moment, dass er sich an sie erinnert. Aber nein, er erkennt sie nicht. Er erkennt sie wirklich nicht! Wie viele Gesas kann er in seinem Leben getroffen haben? Sie zittert am ganzen Körper.
„Entschuldigung, wo ist die Toilette?”, keucht sie.
Sie muss weg von ihm, ihr ist schlecht. Sie folgt seinem Handzeichen und kann gerade noch die Tür hinter sich schließen, bevor sie den Kaffee vom Frühstück erbricht.
Sie könnte Gabi bitten, ihre Tour umzuplanen.
Sie sieht sich selbst, wie sie mit zitternden Händen am Morgen danach ihre Reisetasche packte, leise weinend und, als hätte die Demütigung noch nicht ausgereicht, mit Schluckauf. Was sie in diesem Moment am meisten beunruhigte, war, dass sie keinen Schlafanzug hatte. Aber sie würde nie mehr freiwillig ein Nachthemd tragen.
Sie schwänzte den letzten Schultag und fuhr zu ihrem Vater. Erst nach den Sommerferien zog sie zurück nach Hause, nachdem ihre Mutter Werner aus der Wohnung geworfen hatte, weil er sie betrog. Gesa schlief kaum in den ersten Wochen nach ihrer Rückkehr. Obwohl er gut dreißig Kilometer entfernt bei seiner neuen Freundin wohnte, stellten sich bei jedem Knacken der Holzdielen die Härchen an ihren Unterarmen auf. Das Einzige, was sie beruhigte, war die kalte, glatte Oberfläche des Taschenmessers, das sie bei ihrem Vater hatte mitgehen lassen.
Vermutlich wäre es heutzutage, nach MeToo, anders, aber damals fand sie keine Worte für das, was ihr zugestoßen war. Vergewaltigung hieß, dass ein Perverser hinter einem Busch hervorsprang und sich im dunklen Stadtpark auf dich stürzte, und nicht, wenn du in deinem Bett lagst und schliefst. Womöglich hätte sie etwas gesagt, wenn jemand ernsthaft gefragt hätte, warum sie plötzlich den Sommer bei ihrem Vater verbracht und ihren Nebenjob gekündigt hatte, warum sie ständig müde und erschöpft, warum sie binnen weniger Monate nicht mehr Klassenbeste, sondern versetzungsgefährdet war. Aber niemand schien sich dafür zu interessieren: ihr Vater ständig auf Arbeit, ihre Mutter beschäftigt mit ihrem Liebeskummer, ihre beste Freundin beleidigt, weil Gesa nicht mehr mit in die Disko wollte, die Lehrer zu sehr davon beansprucht, die Klasse unter Kontrolle zu bekommen.
Am Ende des Schuljahres ging sie vom Gymnasium ab. Dank der Kontakte ihrer Mutter bekam sie den Ausbildungsplatz zur Krankenschwester. Sie hätte die Erste in ihrer Familie sein können, die studierte. Stattdessen reinigte sie Zimmer, leerte Bettpfannen und verteilte Essen. Sie war kurz davor, abzubrechen, als sie auf die Kinderstation kam. Vielleicht lag es am unwiderstehlichen Duft der Neugeborenen: nach ihrer ersten Woche dort fiel ihr auf, dass sie währenddessen nicht einmal an die Nacht gedacht hatte, die ihr Leben in ein Davor und ein Danach geteilt hatte.
Mit einem Stück Toilettenpapier wischt sie sich die Wimperntusche aus dem Gesicht, die sich trotz der angeblichen Wasserfestigkeit unter ihren Augen verteilt hat. Warum sollte sie wieder vor ihm weglaufen? Sie wird nicht länger das stumme, hilflose Opfer sein. Sie lässt sich nicht mehr verjagen, nicht dieses Mal. Und sie ist im Vorteil, denn er hat offensichtlich keine Ahnung, wer sie ist. Sieht sie wirklich so anders aus? Ihr dunkelbraun gefärbter Kurzhaarschnitt lässt ihr kantiges Gesicht weicher erscheinen. Sie hat vor ein paar Jahren ihre Augen lasern lassen und trägt keine Brille mehr. Man muss schon sehr genau hinschauen, um in ihr das naive, unsichere Mädchen zu erkennen, das sie mit sechzehn gewesen war.
Nachdem sie ihren Kasack glattgestrichen hat, geht sie zurück und versucht, ihn wie jeden anderen unangenehmen Klienten zu behandeln. Sie spult in Rekordzeit das Pflichtprogramm ab: waschen, anziehen, Insulin spritzen, Frühstück zubereiten.
„Setzen Sie sich doch noch zu mir, Schwesterchen. Sie fragen sich bestimmt, warum so ein gutaussehender älterer Herr allein lebt?”
In diesem Moment weiß sie, dass sie nicht länger so tun kann, als wäre nichts gewesen. Ihr Schweigen hat ihr nicht gutgetan. Warum soll sie die Einzige sein, die unter dieser Nacht leidet? Es ist nicht ihre Schuld, sondern seine, die sie ihr ganzes Leben mit sich herumgeschleppt hat. Er ist ungeschoren davongekommen, ohne Konsequenzen, ohne Reue.
Soll sie ihm einfach das Kissen ins Gesicht drücken, wie sie es schon hunderte Male in Filmen gesehen hat? Sie versucht, sich vorzustellen, wie er sich wehren würde, doch sie sieht wieder nur sich selbst, bewegungsunfähig unter seinem ganzen Gewicht, seine Hand auf ihrem Mund. Wie lange dauert es, bis ein Mensch erstickt? Wahrscheinlich länger, als sie diese Grausamkeit durchstehen könnte. Wäre es für ihn nicht eine größere Qual, weiterleben zu müssen mit seinem Diabetes, dem amputierten Bein, den schwächer werdenden Augen, dem anfälligen Herzen? Aber sie würde ihn, sie würde die tägliche Erinnerung an damals auf Dauer nicht ertragen.
Die Idee kommt ihr, als sie sich wortkarg verabschiedet und ihr Blick auf sein Marmeladenbrot fällt: sie würde ihm einfach eine Überdosis Insulin verabreichen. Sie müsste dafür nur die nächste Spätdienstwoche abwarten. Sie würde ihm das Abendbrot richten, ihm später ins Bett helfen, das Insulin spritzen und das Betthupferl reichen. Kein spürbarer Unterschied zum normalen Programm. Dann würde sie ihm das Kissen aufschütteln und dabei unauffällig den Nachttisch mit dem Handy und dem Notfallknopf darauf so weit vom Bett wegschieben, dass er nicht einfach hinübergreifen könnte, sobald die Unterzuckerung einsetzte. Er würde irgendwann in der Nacht sterben, Stunden, bevor der Frühdienst käme. Und sein Hausarzt ist nicht gerade für eine gründliche Leichenschau bekannt. Sie müsste nur den Insulin-Pen mitnehmen und ihn später entsorgen. Dass ein fast achtzigjähriger Diabetiker mit Herzschwäche stirbt, das ist nicht ungewöhnlich - das ist das Leben. Wünschen wir uns nicht alle, im hohen Alter abends nichtsahnend ins Bett zu gehen, friedlich einzuschlafen und morgens nicht mehr aufzuwachen?
Endlich würde sich ihr jahrelanges Schweigen auszahlen. Niemand weiß, dass sie ihn früher gekannt hat, niemand würde sie verdächtigen. Als sie wieder ins Auto steigt, fragt sie sich, ob ihr Plan nicht zu einfach ist, ob sie etwas übersieht. Aber das macht nichts. Sie hat noch ein paar Tage Zeit, um die Details durchzugehen.