Ihr dunkler Schatten
„Gute Nacht, Mutter.“
„Bis morgen, mein Kind.“
So ER will..., fügte sie im Stillen hinzu und schloss die Tür zum Schlafzimmer hinter sich.
Im Flur schlüpfte sie in ihren Mantel.
Ihre Mutter hatte eine Schlagersendung eingeschaltet und durch die dünnen Wände der Wohnung drang In meinen Träumen ist die Hölle los. Ihr schauderte.
Schnell vergewisserte sie sich, ob die Herdplatten auch wirklich aus waren. Nicht wegen ihrer Mutter, die sie jeden Abend nach der Arbeit besuchte, seit diese durch einen Schlaganfall ans Bett gefesselt war. Sie selbst war es, die mit jedem Tag zerstreuter und nervöser wurde…
Durch einen Spalt im Küchenvorhang spähte sie hinaus in die nächtliche Siedlung. Ihr Blick folgte der langen, geraden Straße, die auf beiden Seiten von Mehrfamilienhäusern gesäumt war. Dazwischen Grünflächen voller Schatten, dunkler Sträucher und Hecken. Keine Menschenseele schien im Licht der Straßenlaternen unterwegs zu sein. Ein flaues Gefühl machte sich in ihr breit. Am liebsten wäre sie hier bei ihrer Mutter, in der kleinen, engen Wohnung geblieben, aber sie musste ihren Alltag beibehalten. Sonst würde ER gewinnen…
In der Ferne machte sie die hell erleuchteten Fenster eines mehrstöckigen Hauses aus. Darin befand sich ihre Wohnung. Keine fünfhundert Meter entfernt. Nur ein paar Minuten Gehzeit…
Mit einem Griff in die Manteltasche vergewisserte sie sich, dass das Pfefferspray noch da war. Dann löschte sie alle Lichter und machte sich auf den Weg.
In der Wohnung ging das Licht aus. Das bedeutete, sie würde gleich aus dem Haus kommen!
Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
Lautlos trat er noch einen Schritt tiefer zurück in die Dunkelheit…
Als sie aus der Haustür trat, zuckte sie zusammen. Nur wenige Schritte von ihr entfernt stand eine schwarze Gestalt im Zwielicht. Ehe sie reagieren konnte, setzte sich die Gestalt in Bewegung und kam direkt auf sie zu. Im nächsten Moment schoss ein kleines, kompaktes Etwas in ihre Richtung und bellte wild.
Dodo, der Dackel! Und Herr Schmidt, ein Nachbar ihrer Mutter!
Erleichtert erwiderte sie seinen Gruß und hastete an dem alten Mann vorbei in Richtung Sicherheit.
Wie schreckhaft und ängstlich sie inzwischen war! Und doch so mutig und so schön… Eine echte Traumfrau!
„Genieße jeden Tag, meine Schöne!“, hatte ER in seinem letzten Brief geschrieben. „Jeder Tag in dieser Woche kann dein Letzter sein. Einer davon IST es ganz sicher!“
Mit dem Brief in der Hand hatte sie – zum x-ten Mal binnen weniger Wochen – auf der Polizeistation vorgesprochen. Wieder bei dem attraktiven und sympathischen Kommissar Jäger, der ihr zwar ehrlich bemüht, aber seiner Aufgabe nicht wirklich gewachsen erschien.
Ein Klirren riss sie aus den Gedanken. Sie fuhr herum, doch der Gehweg hinter ihr war leer. Allerdings parkten überall Autos, hinter denen jemand lauern konnte.
Vor einem Wohnhaus sprang ein Leuchtstrahler an und sie erkannte eine Frau, die Müllsäcke in einen Container stopfte. Ihr Herzschlag beruhigte sich ein wenig.
„Ja, es stimmt leider, was die Gazetten berichten“, hatte Kommissar Jäger bestätigt. Demnach war sie nicht die erste Frau, die in das Visier dieses Wahnsinnigen geraten war. Drei andere hatte man bereits aufgefunden. Tot. Jede auf eine andere Art ermordet. „Der Kerl ist clever. Er versucht durch unterschiedliche Mordmethoden den Anschein zu erwecken, als seien verschiedene Täter am Werk.“
Erdrosselt. Erstochen. Erschlagen. Was stand ihr bevor? Was hatte sich der Wahnsinnige für sie ausgedacht?
Sie zwang sich zum Weitergehen.
Wenn sie wüsste, dass er ihr schon die ganze Woche über folgte. Langsam bekam er Übung! Er schmunzelte. Am Dienstag war er noch nicht so auf Zack gewesen, und sie hatte ihn tatsächlich entdeckt. Aber dank der weißen Perücke und dem falschen Bart, weder erkannt, noch als Bedrohung eingestuft!
Heute musste er vorsichtiger sein, denn er trug keine Verkleidung, nur einen Tarnanzug – und das Holster, in dem eine geladene HK MP5 steckte.
Dabei hatte alles so schön begonnen: Blumen vor der Wohnungstür. Briefe voller Komplimente. Sie war sich wie die Heldin in einem Liebesfilm vorgekommen- bis das Ganze eine hässliche Wendung genommen hatte: Statt roter Rosen lag plötzlich Sexspielzeug vor der Tür und Liebesbekundungen wichen bizarren Sexfantasien und expliziten Gewaltandrohungen.
„Wenn er so raffiniert ist, jeden Mord auf eine andere Art und Weise zu begehen, wie können Sie dann sicher sein, dass es sich um ein und denselben Täter handelt und ich sein nächstes Opfer bin?“
„Erstens entsprechen Sie genau seinem Beuteschema: Um die dreißig, alleinstehend, dunkelhaarig und attraktiv.“ Jäger war ihrem Blick ausgewichen und deutete nun auf den Drohbrief, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag. „Zweitens fanden wir in den Wohnungen der ermordeten Frauen Briefe, wie diesen hier.“
„Also ähnliche Briefe, ähnlicher Frauentyp, aber verschiedene Mordmethoden? Ist das nicht ein bisschen wenig? Gibt es keine Fingerabdrücke? DNA?“
Jäger schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, der Kerl ist clever, aber…“ Er zögerte kurz, ehe er sich einen Ruck gab. „Eigentlich sollte ich Ihnen das nicht erzählen. Nicht einmal die Presse weiß davon: Der Täter sammelt Trophäen, die ihn mit allen Opfern verbinden. Er hat wohl einen Drang, den er nicht bezwingen kann.“
„Und der wäre?“ Sie wusste, er hatte ihr schon mehr anvertraut, als gut für ihn war, doch sie musste wissen, was der Wahnsinnige mit ihr vorhatte. „Bitte!“
Jäger rang sichtlich mit sich, bevor er einlenkte. „Aber reden Sie mit niemandem darüber!“
„Versprochen.“
„Der Täter schneidet jedem seiner Opfer einen Fingernagel ab. Und zwar immer an der linken Hand.“
„Was?“
Jäger nickte und zählte mithilfe seiner Hand auf. „Opfer eins: Daumennagel. Opfer Zwei: Zeigefinger. Opfer drei: Mittelfinger.“
„Opfer vier: Ringfinger.“
Vor ihr tauchten die dunklen Umrisse einer Baumgruppe auf, die zu einer kleinen, parkähnlichen Grünfläche gehörten, die tagsüber das Herz der Siedlung bildete. Bei Nacht allerdings…..
„...ist hier noch nie irgendetwas passiert!“, ermahnte sie sich selbst und bog auf den Schotterweg ab, der auf beiden Seiten von hüfthohen Hecken gesäumt war und direkt zu ihrem Wohnhaus führte.
„Kennen Sie diesen Mann?“ Jäger hatte ihr ein Foto gereicht. Der Mann darauf war um die vierzig. Weder besonders attraktiv, noch besonders hässlich. Weder dick, noch dünn.
„Überlegen Sie gut! Er arbeitet für einen Paketdienst.“
„Nein, ich glaube nicht. Ist das Ihr Hauptverdächtiger?“
Jäger nickte. „Aber er hat Alibis. Seine Mutter, mit der er zusammenlebt, schwört, dass er zu allen Tatzeiten zuhause war.“
„Was Sie bezweifeln?“
„Ja.“
„Warum?“
„Es ist nur ein Bauchgefühl.“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht habe ich mich auch einfach verrannt, aber….“
„Was?“
„Seine Mutter war früher schwarzhaarig und seit einem Unfall fehlt ihr die linke Hand.“
Nur noch hundert Meter, dann war geschafft, wovor sie so viel Angst gehabt hatte!
Wieder waren mehr Leute unterwegs gewesen, als gedacht. Demnach war es für ihren Peiniger vielleicht doch zu riskant, auf dieser Strecke zuzuschlagen? Aber wo dann? Ihr Leben bestand zur Zeit nur aus Arbeit und den allabendlichen Besuchen bei ihrer Mutter. Sie lief entweder hier entlang oder…. Natürlich! Die U- Bahn zum Büro! Gedränge am Bahnsteig. Eine finstere Gestalt in der Menge. Ein kräftiger Stoß…. Eine weitere Mordmethode!
Sie erschauderte – und gleichzeitig erschien ihr dieser Geistesblitz beruhigend logisch.
„Vertrauen Sie mir, äh uns. Wir tun, was wir können!“, hatte Jäger versichert. „Behalten Sie Ihre Alltagsabläufe bei….“
Genau das tat sie – allerdings nicht unvorbereitet!
Sie strich über die Pfefferspraydose in ihrer Manteltasche, als ein neuer Gedanke aufkam: Wenn sie im Gleisbett lag, wie wollte der Mörder dann an seine Trophäe kommen? Sie seufzte.
Diese verdammte Angst machte klares, logisches Denken schier unmöglich.
In diesem Moment hörte sie ein Geräusch. Sie hielt inne und lauschte.
Da war es wieder! Schritte auf knirschendem Kiesel. Reflexartig zog sie das Pfefferspray hervor.
Er huschte, wie ein dunkler Schatten, zwischen nachtschwarzen Bäumen und Sträuchern durchs feuchte Gras und neben ihr her. Er spürte ihre Angst- und ihre Nähe. Sie erschien ihm so nah, als müsse er nur den Arm ausstrecken und...
„Ich warne Sie: Ich bin bewaffnet!“
Ein leises, bösartiges Lachen war die Antwort.
Von blinder Panik erfasst, rannte sie los, doch gleich darauf verfingen sich ihre Füße an einem Hindernis. Ein Drahtseil…. dachte sie im Sturz. Das Pfefferspray flog aus ihrer Hand. Jemand sprang auf sie und zog eine Plastiktüte über ihren Kopf.
Dann fielen Schüsse. Die Last kippte von ihrem Rücken und jemand riss die Tüte weg.
Jäger!
Und nicht nur er: Eine ganze Schar Polizisten tauchte aus dem Dunkeln auf. Taschenlampen erhellten den Tatort. Ihr Blick fiel auf den Toten. „Sie hatten Recht!“
„Kommen Sie!“ Jäger reichte ihr die Hand. „Ich bringe Sie nachhause.“
Und von da an, trennten sie sich nie wieder.