Mila
„Mama ist ins Haus gegangen. Sie hat geweint“, sagte Mila, als ihre Großmutter sich zu ihr ins hohe Gras kniete. Es war schon lange nicht mehr gemäht worden, aber es war auch niemand mehr da, der das konnte.
„Sie weint viel in letzter Zeit, weiß du?“, fuhr sie leise fort.
„Ja!“ Die Frau, die immer so stark und fröhlich gewesen war, die immer wusste, wie es weiterging, schluckte schwer. Es war, als ob ihr auf einmal nichts mehr einfallen würde, das sie ihrer Enkeltochter noch sagen konnte.
„Oma, glaubst du, es liegt an mir?“ Unsicher hob Mila den Kopf. Sie traute sich nicht, ihrer Großmutter in die Augen zu sehen. „Ich habe ihr gesagt, dass Opa doch noch hier ist. Er ist hier bei uns, in seinem Garten.“ Voller Sorge sah sie, wie ihre Oma das Gesicht in den faltigen Händen verbarg und ihre schmalen Schultern wild zu zitterten begannen.
„Oma?“ Ängstlich legte sie ihr die kleine Hand auf den gekrümmten Rücken. „Entschuldigung.“
„Nein!“ Jetzt ergriff die alte Frau Milas Hand und sah ihr tief in die Augen. „Es ist nicht wegen dir, hörst du? Es ist…“ Ihr Griff lockerte sich, und wieder gingen ihr die Worte verloren. „Es tut mir so leid.“
Das hatten sie bei der Beerdigung auch zu ihr gesagt. Tante Tilli, aus Trier und Tom, aus der Gärtnerei aber auch all die anderen, von denen sie viele gar nicht kannte.
Aber warum? Hatte der Pfarrer nicht gesagt, dass Opa jetzt bei Gott leben würde? Und Frau Schwer, die Nachbarin, hatte zu Tom geflüstert, als sie sich neben ihn auf die Bank gedrängelt hatte. „Er hat jetzt keine Schmerzen mehr.“
Dann geht es ihm doch besser, war es Mila durch den Kopf gegangen. Müssen wir uns dann nicht für ihn freuen?
Sie hatte sich furchtbar gefühlt. Alles war so schwarz und traurig gewesen. Niemand hatte ihr etwas erklärt. Auch Onkel Klaus nicht, der sie ganz ernst angeschaut hatte. „Er wird immer bei dir sein.“
„Aber, wenn er doch da ist und jetzt bei Gott lebt, warum meldet er sich dann nicht?“ Mila war sich nicht sicher gewesen, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. Aber Onkel Klaus war auf einmal ganz komisch geworden.
„Weißt du, er passt jetzt auf dich auf. Verstehst du?“
Nein, sie verstand es nicht und wollte auch nichts mehr davon hören. Zu Hause war sie sofort in Opas Garten gelaufen, auf die schöne Blumenwiese. Hier ging es ihr immer gut.
Opa war ein Magier! Das war ihr kleines Geheimnis. Er kannte den Zauber, mit dem die Pflanzen wachsen.
„Sie tun es nicht, weil du sie gießt oder düngst“, hatte er ihr einmal verraten. „Sie tun es, weil sie wollen. Um das zu verstehen, musst du aber lernen, ihnen zuzuhören.“ Verblüfft von dieser Wahrheit, hatte Mila danach zwei Tage lang im Gras gelegen und versucht, es wachsen zu hören.
Ein Schmetterling flog an ihrem Gesicht vorbei. Plötzlich musste sie lächeln. „Es sind Feen!“
„Was?“, fragte ihre Oma verwirrt.
„Feen“, wiederholte sie. „Opa hat es mir erzählt. Du musst sie beschützen, dann beschützen sie auch dich und den Garten. Aber gib Acht! Sie sehen so klein aus, sie sind aber mächtige Zauberwesen. Mit einem einzigen Flügelschlag können sie Stürme machen.“
Milas Oma hatte endlich aufgehört zu zittern. Ihre großen, geröteten Augen sahen aus, als ob sie nicht wussten, ob sie weinen oder lachen sollten.
„Ich zeig es dir, komm mit!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf und nahm ihre Oma an der Hand. Unsicher folgte sie Mila zu dem schiefen, dunkelrot gestrichenen Gartenhaus.
„Hier hat Opa immer Gemüse angepflanzt, das Menschen nicht essen dürfen. Das hier ist Feenland, hat er gesagt.“ Mila war sofort klar gewesen, was er damit gemeint hatte, denn Opas Garten war alles andere, als normal. Für sie war er ein magisches Reich, in dem Zwerge, unter wild wuchernden Brombeerhecken, geheime Schätze hüteten und unsichtbare Elfen in versteckten Astgabeln sangen. Hier gab es keine geraden Zäune oder gestutzten Büsche. Nichts wurde geformt oder gezwungen. Alles hatte seinen Platz, und alles hatte einen Sinn. Wer sich in dieser Welt zurechtfinden wollte, musste die geheimen Pfade kennen. Mila und ihr Opa hatten sie zusammen erforscht.
„Wenn die bunten Raupen kommen“, erklärte sie ihrer Oma, „dann futtern sie die Blätter. Du musst sie in Ruhe lassen. Wenn sie sich sicher fühlen, verwandeln sie sich in eine Fee. Sie fliegen dann zu den Blüten und trinken ihren Nektar. Dafür lassen sie dann ein bisschen von ihrem Feenstaub da, damit die Blumen blühen können und so süß duften. Riechst du das?“
Ihre Oma antwortete nicht, aber sie hielt Milas Hand so fest, als ob sie sie nie wieder loslassen wollte. Mila sah, wie sie dem Schmetterling nachschaute, der jetzt zwischen den Blumen tanzte und ein Lächeln über ihr Gesicht huschen ließ. Das Erste, seit einer Ewigkeit.
„Guck Mal, die Schwalben sind da.“ Beide schauten den eleganten Vögeln nach, wie sie über den Himmel jagten. „Das sind die Tagwächter. Sie fangen die Mücken, die dich stechen und all die vielen Fliegen. Sie reden mit uns. Wenn sie so hoch fliegen, heißt das, dass die Sonne weiter scheint.
„Woher weißt du das alles nur?“, fragte ihre Oma leise.
„Ich habe zugehört. Weißt du, wo die Nachtwächter leben?“
„Nein!“
„Da vorne, im Kirschbaum.“ Schon zog Mila ihre Oma weiter und zeigte auf die Fledermauskästen, die sie und Opa, im letzten Frühling gebaut und aufgehängt hatten. Der Baum breitete seine prächtige Krone über ihnen aus, in der unzählige weiße Blüten, wie Sterne am Himmel leuchteten. Die Luft vibrierte von dem Summen der Bienen, die zwischen ihnen flogen.
„Opa konnte mit den Bienen reden“, flüsterte Mila und legte sich in das hohe Gras.
„Wie meinst du das?“
„Leg dich neben mich.“
Sie fragte nicht nach, sondern ging langsam in die Hocke und legte sich dann vorsichtig, neben Mila, auf den Rücken. Der Himmel über ihnen war ein Ozean, aus Weiß und Grün, in dem die Bienen, wie fliegende Fische umherschwammen.
„Du musst die Augen schließen.“
Schweigend lagen sie nebeneinander. Das immer lauter werdende Summen vermischte sich mit dem Duft der jungen Kirschblüten, und gemeinsam ließen sie sich an einen Ort entführen, der nur ihnen gehörte.
„Sie sind die mächtigsten Wesen der Welt, weil sie den Zauber des Lebens kennen. Sie sind die Hüter und machen, dass alles blüht und wächst.“ Es dauerte eine Weile, bis sie weitersprach. „Nichts lebt, weil es muss.“
„Es lebt, weil es will“, beendete ihre Oma den Satz.
Als Mila endlich die Augen öffnete, erkannte sie ihre Mutter, die schweigend vor ihr im Gras kniete. „Mama, ich hab nicht gemerkt, dass du gekommen bist.“
„Mila, du hast Recht. Opa ist noch hier. Er lebt ganz tief in dir.“ Tränen liefen ihr das Gesicht hinab, als sie ihre Tochter fest in die Arme schloss. Auch Milas Oma schluchzte tief und drückte beide an sich.
Und jetzt, endlich, konnte auch Mila weinen. Und es war gut so!