Felix
Anne lehnt sich im Sessel zurück und streichelt sanft ihren prallen Bauch, durch das geöffnete Fenster hört sie die Vögel zwitschern, Fliederduft dringt mit warmer Frühlingsluft in das neue Kinderzimmer herein. Sie schließt die Augen und lächelt glücklich. Die Gedanken eilen in die Zukunft, in die bevorstehende Zeit mit ihrem Kind, ein absolutes Wunschkind. Sie kann es kaum erwarten, die letzten zwei Wochen vergingen wie im Flug. Hätte sie die Zeit noch mehr genießen müssen?
Als die Wehen einsetzen, bringt Jan seine Frau aufgeregt und nervös ins Krankenhaus. Sie werden von einer freundlichen Hebamme empfangen. Annika prüft den Herzschlag des Kindes, untersucht Anne und stellt zufrieden fest, dass alles in Ordnung ist. Ob sie sich schon einen Namen überlegt hätten? Anne und Jan nicken. „Felix, der Glückliche.“ „Weil wir so glücklich sind!“, fügen beide mit einem Lächeln hinzu. Die Stunden vergehen. Anne schwitzt und stöhnt, Jan schwitzt und tröstet. Die Presswehen haben eingesetzt. „Endspurt!“, motiviert Annika. Anne sammelt ihre letzten Kräfte zusammen, presst, stöhnt, schreit und presst. Die Hebamme ruft, sie könne schon die Haare sehen. Dann, endlich, ist es vorbei. Annika fängt Felix auf, der das Licht der Welt mit Schwung erblickt und Anne sinkt erschöpft in das Kissen zurück. Jan darf die Nabelschnur durchschneiden. Annika wickelt Felix behutsam in ein Handtuch und legt ihn Anne auf die Brust. Die Welt schrumpft plötzlich auf ein Minimum zusammen. Es scheint nur noch sie drei zu geben. Felix umgreift mit seiner kleinen Hand Annes Finger, Jan streichelt ihm vorsichtig über die dichten dunklen Haare. Er schaut seine Frau an und kann sein Glück kaum fassen. „Ich liebe dich!“ , sagt er zu ihr. Anne schaut zu ihm auf, ihre blauen Augen strahlen und leuchten, trotz der Anstrengung, die hinter ihr liegt. „Ich liebe dich auch“, sagt sie und wendet sich Felix zu, „und dich liebe ich auch!“ Jan nimmt jedes Detail dieser wenigen Minuten wahr. Die nassen Haarsträhnen, die Anne an der Schläfe kleben, die Flexüle in ihrer linken Hand, Annes glückliches Lächeln, die weißen Gardinen, die sich mit jedem Luftzug leise bewegen. Das Glück, was er in diesem Moment empfindet, ist fast greifbar, so groß erscheint es ihm. Wie aus der Ferne nimmt er die Stimme der Hebamme wahr, aber ihre Worte dringen nicht zu ihm durch. Er versteht nicht, warum er plötzlich zur Seite geschoben wird, warum er auf einmal Felix im Arm hält. Das Kind gehört doch auf Annes Brust. „Er soll doch was trinken!“, ruft er noch. Dann bemerkt er, dass mit Anne etwas nicht stimmt. Sie hat die Augen weit aufgerissen und ringt nach Luft. Er versteht gar nichts mehr. Eine Ärztin kommt hereingestürmt. Es hat angefangen zu regnen, er hört die Tropfen leise aufs Fensterbrett trommeln. Er kann Anne nicht mehr sehen, so viele Menschen stehen um sie herum. Da wird er sanft an den Schultern nach draußen geschoben. Er nickt und macht, was man ihm sagt, hält seinen kleinen Sohn fest im Arm. Eine andere Schwester nimmt ihn mit in ein ruhiges Zimmer. Auf die Frage, was mit seiner Frau sei, bekommt er keine Antwort. Die Zeit vergeht wie in Zeitlupe, Felix ist mittlerweile angezogen und gefüttert. „Aber er soll doch gestillt werden“, hat Jan eingewendet, „wir müssen ihn zu meiner Frau bringen!“ Es ist bereits dunkel draußen, als endlich ein Arzt das Zimmer betritt. Sein ernster, abgekämpfter Gesichtsausdruck irritiert Jan. Sein Herz fängt an, schnell und laut zu schlagen. Ihm ist kalt, schwindelig, er fängt an zu zittern. Wie durch Watte hört er die Stimme des Arztes. „Es tut uns leid… Fruchtwasserembolie…Reanimation…wir haben alles versucht…vor wenigen Minuten verstorben…wollen Sie sie noch mal sehen?“ Stille. Er nimmt das Rauschen in seinen Ohren und den eigenen, lauten Herzschlag wahr. „Wollen Sie sie noch mal sehen?“ , der Arzt wiederholt seine Frage leise. Die Welt scheint still zu stehen. Jan weiß nicht, was er tun, was er sagen soll. Wieso wacht er nicht plötzlich aus diesem Albtraum auf? Felix fängt an zu schreien und Jan nickt dem Arzt zu. „Kommen Sie, ich begleite Sie.“ Er greift nach Jans Arm und hilft ihm auf. Eine Schwester kümmert sich um Felix. Jan kann sich später nicht mehr an alles erinnern. Das Beruhigungsmittel, was die Ärzte ihm spritzen mussten, als er im Kreißsaal neben seiner toten Frau zusammengebrochen ist, vernebelt die Erinnerung. Die folgenden Tage im Krankenhaus durchlebt er wie in Trance. Er weiß nicht wie, aber irgendwie scheint er weiterzuleben. Und Anne ist tot. Wenn er Felix sieht, weiß er, dass er stark sein muss. Für ihn. Nach vier Tagen dürfen beide nach Hause. Er trägt die Babyschale in der einen Hand und die Tasche mit Annes Sachen in der anderen Hand. Hinter ihm fällt die Tür ins Schloss und die erdrückende Ruhe der einsamen Wohnung empfängt ihn. Annes Parfum hängt noch in der Luft. Ihre Schuhe stehen unter der Bank im Flur, ihre Jacke hängt am Haken, ihr Lachen ist noch zu hören.
Aber sie wird nicht wiederkommen.