Die Donnerstags-Pauline
„Pauline, wann gibt es Essen? Ich habe Hunger“, schallt es ungnädig durch den Hausflur.
„Gleich mein Schatz“, ruft Pauline durch die halboffene Küchentür. Sie schrubbt energisch die Fettspritzer des Schnitzelbratens vom Herd, der Citrusduft des Spülmittels steigt ihr unangenehm in die Nase. Pauline sieht auf die Küchenuhr, fünf Minuten vor zwölf, perfektes Timing. Ihr Blick fällt beiläufig auf das darunter stehende Küchenregal. ‚Vegane und gesunde Küche‘ prangt dort in goldener Schrift auf einem verstaubten Bucheinband.
Ob sie wie die Kaninchen leben sollen, hatte Hans abfällig gescherzt, als Pauline das Buch vor einigen Jahren begeistert mit nach Hause gebracht hat. Manchmal hat sie beim Kochen das Gefühl, das Buch lacht hinter ihrem Rücken. Ein hämisches, leises Lachen. Wie sie tagein tagaus in ihrer karierten Kittelschürze in der Küche steht und für ihren Mann Hans und Sohn Fabian Frikadellen, Würstchen, Braten und Gulasch zubereitet. Verärgert wirft sie ihr Geschirrtuch über das Buch. Das Lachen erstickt.
Ein Messer schabt quietschend über den Teller und verursacht Pauline Gänsehaut.
„Das ist aber ganz schön fasrig heute“, beschwert sich Hans mit vollem Mund, während er das Schnitzel auf dem Teller zersägt. Er kaut schwerfällig, der stoppelbärtige Kiefer mahlt angestrengt von links nach rechts. Fabian gibt einen zustimmenden Grunzlaut von sich. Mehr Kommunikation kommt aus dem Teenager seit Wochen kaum raus. An anderen Tagen hätte Pauline das gekränkt, aber heute ist Donnerstag. Und die Laune der Donnerstags-Pauline kann nichts erschüttern. Donnerstags gehen Hans und Fabian zum wöchentlichen Treff in den Jagdverein und Pauline verfolgt eigene Pläne. Geheime Pläne.
Pünktlich um fünf Uhr fällt die Haustür krachend ins Schloss, als Hans und Fabian das Haus verlassen. Pauline lächelt, atmet tief ein, tief aus. Sie legt eine CD auf und dreht die Lautstärke hoch. Kubanische Klänge schallen rhythmisch durch das Haus. Die Donnerstags-Pauline ist nicht wie die Montags- oder Dienstags-Pauline. Sie ist unternehmungslustig, wagemutig, leidenschaftlich. Vor dem Badezimmerspiegel trägt sie summend ‚rouge noir‘ auf ihre Lippen auf und zwinkert ihrem Donnerstags-Ich zu. Aus dem Schrank befördert sie ein enganliegendes schwarzes Kleid zu Tage. Absätze klackern auf dem Fliesenboden im Flur, die rote Paillettentasche reflektiert das Licht im Flurspiegel und lässt leuchtende Kringel auf der Tapete tanzen. Nur eine kurze Autofahrt später steht sie nervös vor der Tanzschule Trewer.
Pauline streicht ihr Kleid glatt, atmet tief durch und stößt die Flügeltür energisch auf. Der Vorraum der Tanzschule ist in gedämpftes rotes und gelbes Licht getaucht. An der Bar tummeln sich die ersten Paare und Singles, Lounge-Musik schallt durch den Raum. Der Inhaber Luis Trewer macht wie jeden Abend die Runde und unterhält sich mit seinen Gästen. Die familiäre Atmosphäre begeistert Pauline seit ihrem ersten Tag hier. Eine Frau mit zwei Weingläsern an der Bar winkt Pauline zu. Dorothee hat sie in ihrem ersten Tanzkurs kennengelernt, sie sind sich sofort sympathisch gewesen. Sie umarmen sich fest zur Begrüßung.
„Hey meine Liebe, wie geht es Dir?“, will Dorothee sofort wissen.
„Ach, du weißt schon, der Alltag ist nicht sehr spannend, aber heute bin ich ja hier“, antwortet Pauline lächelnd.
„Du willst nicht wissen, was mir die Woche passiert ist…“ Dorothee beendet den Satz nicht, ihr Blick fällt hinter Pauline. „Ich geh mich schon mal aufwärmen.“ Sie zwinkert ihr zu und rutscht etwas zu eilig von ihrem Stuhl. Eine feste Hand legt sich auf Paulines Schulter. Achim, schießt es Pauline durch den Kopf, ohne dass sie sich umdrehen muss.
Ein Jahr ist es her, dass Achim eines Donnerstagabends vor Pauline im Tanzkurs gestanden hat. Tiefe Lachfalten um Augen und Mund, dunkles, gelocktes Haar mit wenigen grauen Strähnen durchzogen, das wirr von seinem Kopf abstand. Das knittrige Hemd und die geflickte Hose ließen ihn lässig wirken. Er war aufgekratzt, hat ihr den ganzen Abend von einer Dienstreise nach Kambodscha berichtet, bei der er Teil einer archäologischen Exkursion war, eine Abwechslung zu seinem Alltag als Museumskurator. Seine fast schon kindliche Begeisterung ist sofort auf sie übergesprungen. Seitdem ist kaum eine Woche vergangen, in der sie sich nicht sehen, angeregt unterhalten oder miteinander tanzen. Seine Versuche, sie außerhalb der Tanzschule zu treffen, hat sie bislang abgewehrt, auch wenn es ihr jede Woche schwerer fällt.
Paulines Herz klopft schneller, als Achim sie zur Begrüßung auf die Wange küsst. Der Small Talk fällt heute kurz aus, denn es ertönt bereits der Gong, der alle Tänzerinnen und Tänzer auffordert, in die Kursräume zu gehen.
„Dann wollen wir mal“, sagt Achim und streckt ihr die Hand entgegen. Sie ist angenehm warm, als er ihre umschließt. Nicht schwitzig und fleischig wie die von Hans. Verärgert schiebt sie den Gedanken weg wie eine lästige Fliege, Hans hatte Donnerstagabend nichts in ihrem Bewusstsein verloren.
„Hattest du heute keinen guten Tag?“, fragt Achim. Er hat wohl die Falten zwischen ihren Augen bemerkt.
„Nein, nein, mir ist nur etwas eingefallen, dass ich heute vergessen habe zu erledigen.“ Sie lächelt entspannter und lässt sich von Achim zum Saal ziehen.
Die Musik setzt bereits ein, eine Rumba. Achim zieht sie mit der freien Hand an sich. Er riecht nach After Shave, Waschmittel und Holz. Paulines Nasenflügel blähen sich leicht auf, als sie seinen Duft einatmet und dabei die Augen schließt.
Dorothee grinst Pauline im Vorbeitanzen vielsagend an. Pauline grinst über Achims Schulter zurück. Mit jedem weiteren Tanz verdrängt sie, dass es auch die Montags-, Dienstags- oder Mittwochs-Pauline gibt. Sie fühlt das Hier und Jetzt. Eine Hand über ihrer Hüfte, das leichte Schwindelgefühl bei den vielen Drehungen, den Rhythmus der Musik. Achim ist ein guter Tänzer, er hat Spaß dabei und nimmt Fehler bei den Figuren nicht ernst, sondern lacht mit Pauline darüber hinweg. Pauline blickt ihm fest in die Augen und fragt sich, wie es wäre, mit ihm auszugehen, ihn auch außerhalb der Tanzschule zu treffen.
Sein Blick ruht auf ihr, bis sie nervös die Augen abwendet. Sie sieht auf die Uhr und erschrickt, schon halb zehn. Hans und Fabian würden schon bald zu Hause eintreffen.
Hastig verabschiedet sie sich, atmet bei der Umarmung noch einmal tief Achims Geruch ein, winkt den anderen Tänzerinnen und Tänzern zu und sprintet zu ihrem Auto.
Der Motor heult auf, als sie aus der Parklücke schießt. Mit klopfendem Herzen kommt sie zehn Minuten später zuhause an. Bereits von außen sieht sie, dass das Haus noch im Dunkeln liegt und atmet erleichtert durch. Geschafft.
Mit dem schwarzen Kleid streift sie im Schlafzimmer auch die Donnerstags-Pauline ab. Noch sieben Mal schlafen, denkt sie beruhigt und fällt in einen leichten Schlaf.
Kurz darauf weckt sie das rasselnde Schnarchen von Hans, der spät nach Hause gekommen ist und nun neben ihr liegt. Sein Atem riecht nach Bier, Rauch und fettigem Essen, der Brustkorb senkt und hebt sich wie ein Blasebalg. Noch sieben Mal schlafen.
Am nächsten Tag sitzt Pauline schweigend vor ihrem Mittagessen, Appetit hat sie wenig. Hans fängt an, sich nervös die Bartstoppeln zu kratzen. Kleine Hautschuppen fallen herab und bleiben auf dem dunkelblauen Tischset liegen. Pauline starrt hypnotisiert auf die rieselnden Schuppen, es erinnert sie an eine Sanduhr. Eine Sanduhr, die anzeigt, dass die Zeit abgelaufen ist.
„Pauline Schatz, du glaubst nicht, was gestern im Jagdverein los war!“
Interesse an Neuigkeiten aus dem Jagdverein hat sie schon seit Jahren nicht mehr, aber Hans würde ihr den Bericht nicht ersparen.
„Was ist passiert?“, fragt sie mit monotoner Stimme.
„Der Vorstand hat Gelder veruntreut, da läuft eine Untersuchung! Der Verein macht erstmal dicht. Keine Treffen mehr donnerstags“, erzählt Hans schmatzend. Fleischsaft tropft ihm aus dem Mundwinkel.
Eine Gabel fällt klirrend zu Boden, die Soßenreste hinterlassen dunkle Spritzer auf dem frisch gewischten, grauen Fliesenboden.
„Ja Paulinchen, ich war genauso schockiert, das kannst du dir vorstellen“, fährt Hans fort.
Das Geschirr türmt sich nach dem Essen in der Spüle. Wie der Frust und Ärger, der sich seit Jahren in Pauline aufgebaut hat. Doch statt mit dem Abwasch zu starten, greift Pauline zu ihrem Handy.
Samstagabend 8 Uhr im Ristorante Venezia? tippt sie ein und sendet, ohne zu zögern.
Anschließend greift sie zu dem veganen Kochbuch. Mit dem weiß-blau karierten Küchentuch wischt sie liebevoll den Staub ab und schlägt es auf. Etwas muss sich ändern. Die Zeit, die Donnerstags-Pauline sechs Tage die Woche einzusperren, ist abgelaufen. Wie eine Sanduhr, Korn für Korn.