Frau Schöneburgs Schutzengel
„Verschwinde!“, blaffte ich, knallte das Fenster zu und legte mich zurück ins Bett. In sechs Stunden musste ich aufstehen, mich für die Schule fertig machen und eine Mathearbeit schreiben. Bisher hatte ich kein Auge zugemacht.
Wieder kratzte es an der Glasscheibe.
„Das kann doch nicht wahr sein!“ Ich zog mir die Decke über den Kopf und versuchte, das Geräusch zu ignorieren. Die Folge war, dass es nur noch lauter wurde. Also stand ich erneut auf und öffnete das Fenster.
„Was willst du? Da drüben ist dein Zuhause. Geh schon!“, zischte ich und wedelte mit meiner Hand vor Minas Nase herum.
Ein Miau war die Antwort. Ich hatte die Nachbarskatze ewig nicht gesehen und eigentlich kam sie nie so nah an unser Haus. Aber jetzt drehte sie sich auf der Fensterbank, zuckte mit ihrem getigerten Schwanz und sah nicht aus als würde sie gleich Ruhe geben.
„Es reicht mir. Ich bringe dich jetzt rüber“, sagte ich zu Mina als könnte sie mich verstehen. Ich zog mir die Turnschuhe über die nackten Füße und stieg über das Fensterbrett hinaus in den Garten. Wenn meine Eltern rausfanden, dass ich mich mitten in der Nacht rausschlich, um Frau Schöneburg ihre nervtötende Katze zu bringen, konnte ich mit einer Woche Stubenarrest rechnen.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und stapfte mit verwuschelten Haaren und im Schlafanzug über den Rasen auf das Grundstück der Nachbarin. Zu meiner Überraschung folgte mir Mina nicht nur, sondern lief sogar bis zur Haustür voraus. Ich verdrehte die Augen. Den Weg hätte die Katze also auch alleine gefunden.
Der Sensor schaltete automatisch eine kleine Lampe auf der Veranda ein. Ich klopfte zaghaft an das verschlissene Holz. Niemand öffnete. Natürlich öffnete niemand. Es war halb eins in der Nacht. Also klopfte ich stärker. Mina beobachtete mich geduldig.
„Tja, da hast du wohl Pech. Dein Frauchen schläft. Im Gegensatz zu mir!“ Ich drehte mich um und wollte gehen, doch Mina lief hinter mir her und haute mit der Tatze von hinten gegen mein Bein.
„Au! Was soll das?“
Wieder antwortete sie mit einem Miau und trippelte zurück zu Frau Schöneburgs Haus. Dabei schaute sie mehrmals zu mir und maunzte. Schließlich blieb sie unter einem der Fenster sitzen. Ich ließ die Schultern hängen und stieß einen genervten Seufzer aus. Ich musste Frau Schöneburg raten, eine Katzenklappe zu besorgen.
Diesmal klopfte ich direkt beherzt gegen das Fenster, aber es gab nach und schwang ein Stück nach innen auf. „Ist das dein Ernst? Du hättest einfach hochspringen können“, sagte ich zu Mina und funkelte sie böse an.
Dann stellte ich mich auf Zehenspitzen, um einen Blick ins Haus zu werfen. Durch das Wohnzimmer konnte ich bis zum Flur sehen und irgendwo im hinteren Teil des Hauses brannte Licht.
„Frau Schöneburg? Sind Sie wach?“
„Leonie, bist du das?“, hörte ich die zittrige Stimme der alten Dame. „Hilf mir bitte!“
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Das klang nicht gut. Ich zog mich am Fensterbrett hoch, schwang meine Beine rüber und landete vor einem Holztisch mit Häkeldeckchen. Bisher gab es nie einen Anlass, das Haus von Frau Schöneburg zu betreten, aber ich hatte es mir genau so vorgestellt. Es roch nach Lavendel, aber auch ein wenig modrig. An den Wänden hingen Schwarz-weiß-Bilder und auf der Kommode stand ein dicker Röhrenfernseher.
„Beeil dich, Kind!“, rief Frau Schöneburg.
Ich lief in den Flur und folgte dem Licht in die Küche. Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund. Mitten auf dem braunen Fliesenboden lag Frau Schöneburg ausgestreckt auf dem Rücken. Sie trug ein geblümtes Nachthemd und ihre grauen Haare waren in Lockenwickler eingedreht.
„Was ist passiert? Sind sie verletzt?“
„Nun komm schon! Hilf mir hoch!“, drängte Frau Schöneburg.
„Natürlich.“ Ich bückte mich runter, griff unter die Arme der Frau und zog sie hoch. Zum Glück konnte sie mit eigener Kraft etwas nachhelfen, denn sie war ganz schön schwer. Als sie endlich saß, deutete sie mit der Hand auf das Telefon, das auf einem Beistelltisch stand.
„Ich glaube, ich habe mir etwas gebrochen. Ruf doch bitte den Krankenwagen.“
Ich nickte, griff nach dem Hörer und drückte die Tasten. Das Ding hatte kein Display, weshalb ich nicht wusste, ob es die Nummer richtig übernahm. Schließlich hörte ich jedoch die Stimme des Notrufs und erklärte den Vorfall.
„Sie kommen gleich“, sagte ich zu Frau Schöneburg.
„Das ist gut. Ich liege schon seit einer Stunde hier. Wollte mir eigentlich nur ein Glas Wasser holen und dann bin ich ausgerutscht. Zum Glück hast du mich gefunden“, sagte die Frau, hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Warum bist du überhaupt so spät noch draußen?“
„Ihre Katze war an meinem Fenster und hat keine Ruhe gegeben. Anscheinend wollte sie Hilfe holen“, sagte ich und verschwieg, dass ich total genervt von der nächtlichen Störung war.
Frau Schöneburg schüttelte den Kopf und gluckste. „Das kann nicht sein, Leonie. Mina ist schon seit zwei Monaten tot.“