Linda
Linda läuft mit den Schuhen in der Hand barfuß durch den Sand. Sie trägt ein leichtes Kleid und ihre strubbeligen Haare hat sie mit einer Spange zusammengebunden.
Nach der gleißenden Hitze der vergangenen Tage hat auch die Nacht kaum Abkühlung gebracht. Das Meer schwappt müde, mit nur leichten Wellen, an das Ufer.
Sie geht langsam, aber zielstrebig. Vorbei an den kleinen Felsvorsprüngen, bis sie die blaue Metallleiter entdeckt. Fast wäre sie daran vorbeigelaufen. Die Natur holt sich zurück, was ihr gehört, denkt Linda. Eine Baumschlinge hat sich um die Leiter gewunden. Linda betrachtet die kleinen sternförmigen Blüten. Innen violett und außen grüngelb bilden sie einen schönen Kontrast zum Blau der Leiter. Kleine weiße Härchen umgeben die Blüten, und Linda saugt den Duft dieser Pflanze mit geschlossenen Augen ein.
Die Leiter, die vor vielen Jahren hier angebracht wurde, hat eindeutig schon bessere Zeiten gesehen. Der blaue Lack blättert ab und einige rostige Schrauben hängen an dem Gestell. Vorsichtig betritt Linda die erste Stufe und steigt langsam bis nach oben. An der steinigen Wand wächst eine gelbe Zistrose. Linda streckt ihre Hand danach aus und berührt mit Daumen und Zeigefinger die Blätter, die sich ein bisschen anfühlen wie Samt. Da die letzte Strebe der Leiter fehlt, muss sie sich die letzten 20 Zentimeter am Felsen nach oben ziehen. Wie so oft wünscht sie sich, doch ein bisschen größer zu sein als nur einen Meter fünfundsechzig, dann würde dies nicht so eine beschwerliche Aktion sein.
Sie erinnert sich daran, als sie diese Leiter vor rund 30 Jahren entdeckt hatten. Sie waren beide Mitte 20 und dachten, nichts im Leben könne sie je erschüttern.
Linda setzt sich. Die Arme hinter dem Körper durchgestreckt berühren ihre Hände den glatten Stein, der sich um diese Tageszeit noch angenehm kühl anfühlt. Erschöpft pustet sie sich eine Haarsträhne, die sich aus dem Zopf gelöst hat, aus dem Gesicht.
Die Vegetation ist hier eher spärlich. Sie atmet tief ein und saugt den Geruch von Oregano, Thymian und anderen Kräutern ein. Die Hitze der vergangenen Tage hat dafür gesorgt, dass die Pflanzen ihre ätherischen Öle explosionsartig verteilten. Sie nimmt den Geruch von Ziegen wahr, die rings um den Hügel nach Futter suchen.
Die Stille hier oben tut ihr gut. Außer Zikaden und den Glöckchen, die einzelne Ziegen um den Hals tragen, ist nichts zu hören.
Eine Eidechse, die die ersten Sonnenstrahlen des Tages genießen wollte, fühlt sich gestört und flitzt schnell unter einen Stein, der ihr den nötigen Schutz bieten wird.
Oberhalb der Plattform befindet sich eine kleine Kirche. Der weiße Kalk spiegelt in der Sonne. Die blaue Kuppel gleicht einem Postkartenmotiv. Die dornigen Büsche machen den Aufstieg dorthin zu einem schwierigen Unterfangen, trotzdem brennt im Inneren der Kirche immer eine Kerze, ein ewiges Licht. Wer es wohl sein mag, der jeden Tag diesen Weg nach oben geht?
Linda seufzt tief. Sie hatte sich entschieden, alleine hier her zu fahren. Denn an einem Ort, an dem man mit jemandem sehr glücklich war, würde ein anderer Mensch nur stören.
Eine einzelne Ameise kriecht flink über Lindas Bein. Sie lässt sie gewähren und lächelt.
Unten am Strand sieht Linda die längst verlassene Taverne. Der Putz blättert von den Wänden, die alte Holztür ist vermodert und hängt nur noch an einer Angel. Die Fenster sind eingeschlagen und die dunklen Öffnungen wirken wie traurige Augen. Eine Bougainvillea trotzt dem Ganzen und breitet ihre rosaroten Blüten über der ehemaligen Terrasse aus. Einst war dort eine Markise angebracht – nun kann man nur noch Fragmente der rostigen Metallpfeiler sehen. Einzig das Blechschild mit der Aufschrift Η ταβέρνα της Κάρμεν lässt erkennen, dass es sich um ein Lokal handelte. Es wiegt langsam im Wind. Bei stärkerem Wind schaukelt es heftig und gibt quietschende Geräusche von sich.
Lindas genießt den Ausblick. Das Meer ist ruhig – doch trotzdem zeigen sich an der Oberfläche weiße Schaumkronen. Fern am Horizont sieht sie ein Schiff. Vielleicht ein Tanker oder ein Kreuzfahrtschiff, auf dem sich die Leute vergnügen und ihre Zeit genießen.
Ihr Blick fällt auf eine dem Strand vorgelagerte Insel, eigentlich ist es nur ein Felsen im Meer. Unbewohnt und karg. Diese „Insel“ hatte sie ihm bei ihrem ersten Besuch hier zum Geschenk gemacht.
Eine kleine Träne sucht sich den Weg über ihre Wange.
Heute Abend wird sie noch mal herkommen, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Er hatte ihr einst gesagt, es würde zischen, wenn die Sonne das Meer berührt. Heute wird sie ganz besonders darauf achten.