Die Stille der Platanen
Das Zeichen war ausgeblieben. Irgendein Zeichen. Zum Beispiel eine Platane, die ihr zuflüsterte, dass sie es schaffen würde. Dass sie umdrehen könnte, nach Hause gehen und alles würde gut werden. Aber keine Platane – schon gar keine flüsternde – hatte sich ihr an diesem regnerischen Märztag in den Weg gestellt.
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Die Lesung war damals schlecht besucht gewesen, und sie hatte sich in die erste Reihe gesetzt. Direkt in sein Blickfeld. Die ganze Zeit meinte sie, er würde nur zu ihr sprechen. Martha hatte Carlos Romane begeistert gelesen und beim anschließenden Umtrunk mit Leuten aus dem Publikum waren sie schnell in einen Dialog vertieft, so dass sie bald allein am Tisch saßen. Martha wusste, dass Carlo verheiratet und Vater zweier Söhne war. Stolz hatte er ihr Fotos gezeigt: zwei hübsche Jungs mit den Augen ihres Vaters. Seine Ehe bestand nur noch auf dem Papier, aber er und seine Frau waren sich einig, dass Kindern keine Trennung zuzumuten sei.
Carlo spielte Martha von Anfang an nichts vor, und sie mochte auch das an ihm. Sie empfand ihre Beziehung als spannend und ungewöhnlich. Trotzdem hatte sie in den letzten Jahren manchmal einen Stich verspürt, wenn sie bemerkte, wie bedacht Carlo darauf war, dass seine Söhne nichts von ihr erfuhren. Den Gedanken, dass sie selbst gerne eine Familie mit ihm gegründet hätte, hatte sie immer erfolgreich beiseitegeschoben.
Bis zu dem Tag vor drei Wochen, als sie den positiven Schwangerschaftstest in Händen gehalten und festgestellt hatte, dass sie sich freute. Sie ahnte, dass das bei Carlo anders sein würde, aber sie wollte hoffen. Als sie sich eine Woche später im Hotelzimmer gegenüberstanden, rief Carlo in gespielter Aufregung: „Du bist ja noch schöner geworden! Sag‘ nur nicht, dass Du Dich in einen anderen verliebt hast!“
Martha lachte, und obwohl sie geplant hatte, ihn langsam auf die Neuigkeit vorzubereiten, zog sie lächelnd den Test aus ihrer Tasche und zeigte ihn Carlo.
Nie hatte Martha einen Mann so schnell so blass werden sehen. Für einen kurzen Moment dachte sie, er würde rücklings umfallen. Doch er fiel nicht. Stattdessen straffte er sich, ging einen Schritt zurück und sagte ohne jedes Zögern: „Das geht nicht.“
Martha hatte das Gefühl, die Luft zum Atmen würde ihr genommen. Sie setzte sich auf den roten Sessel neben ihn, ohne etwas zu erwidern. Carlo schien froh darüber. Denn nun hatte er Zeit für all seine Argumente:
„Ich bin viel zu alt mit meinen 60 Jahren. Du doch auch, immerhin bist du über 40. Wir wollten doch nie ein Kind. Das war nie Thema zwischen uns!“
„Ja, du hast Recht. Und ich habe es auch nicht darauf angelegt, wenn du das andeuten willst…“
„Man wird doch nicht einfach so schwanger! Hast du die Pille abgesetzt?“
„Nein, aber ich habe sie wohl mal vergessen. Wenn du solche Angst davor hattest, mich zu schwängern, dann hättest du dich ja auch um die Verhütung kümmern können!“
Sie schrie, ihre Stimme war spitz und überschlug sich. Ihre Gedanken drehten sich nur noch um die eine Anschuldigung, die sie Carlo am liebsten vor die Füße geworfen hätte: „Du hast doch nur Angst davor, das deinen Söhnen erklären zu müssen. Der Super-Papa, der sie seit Jahren anlügt!“ Doch sie konnte es nicht aussprechen, wollte ihn nicht in die Enge treiben, weil sie noch immer hoffte. Schweigend saß sie da, während Carlo mitten im Raum stand. Nach einer Weile sagte Carlo ganz ruhig: „Du bist doch gar kein Mutter-Typ. Glaubst du wirklich, dass du das schaffst?“
Wortlos stand sie auf, nahm ihre Tasche, ging an ihm vorbei, verließ das Zimmer, das Hotel.
***
Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie nach Hause gekommen war. Carlos letzte Sätze waren der ultimative Schlag gewesen, weil sie genau die Befürchtungen beinhalteten, die Martha gleich nach der ersten Freude über die Schwangerschaft heimgesucht hatten.
Gegen diese Angst hatte ihr Gefühl keine Chance. Deshalb hatte sie in den letzten zwei Wochen alles erledigt, um der Vernunft Tribut zu zollen. Sie hatte sich beraten lassen, war bestimmt in ihrer Entscheidung gegen das Kind aufgetreten und war sonderbar enttäuscht, auf wie wenig Widerstand sie getroffen war. Auch ihre Schwester und ihre Freundin fanden es verständlich oder gar vernünftig, dass sie das Kind nicht bekommen würde. Am Ende musste Martha sich eingestehen, dass sie einfach nicht den Mut hatte, das Kind zu bekommen. Nicht allein. Nicht, wenn Carlo nicht doch noch sagen würde: „Ich freue mich.“
Aber Carlo hatte nichts mehr gesagt. Und nun saß Martha in der Tagesklinik und fühlte nur Hass auf sich selbst. Sie war 41 Jahre alt und nicht die Frau, die sie sein wollte. Sie hatte sich in den letzten Jahren mit Carlo das Glücklich-Sein nur vorgespielt. Sie wusste nicht, wer sie war. Wie konnte sie da Mutter sein?
Sie wurde zur Kurzzeitnarkose gerufen. Keine Angst. Nicht mehr aufzuwachen, wäre nicht schlimm. Danach würde nur eines sicher sein: Martha würde nie wieder an einer Platane vorbei gehen, ohne an diesen Märztag zu denken.