Das Leben, welches mich vergaß
Der Nebel ist kalt. Er ist dunkel und grau. So als versuche Mutter Natur jede mögliche Abstufung der Farbe Schwarz darin unterzubringen. Der Nebel ist unbarmherzig, er schleicht sich an auf leisen Sohlen. Zunächst zeigte sich ein fader Dunstschwaden, dann brach der Winter ein. Über die Welt, über mich. Der Nebel hat jeden Sonnenstrahl vertrieben und jede Wärme erstickt. Der Nebel giert nach Leben, er ist hungrig, aber vor allem ist der Nebel undurchsichtig. Er ist von keinem Auge zu durchdringen und er wird immer dichter. Der Nebel ist schwarz und er wird schwärzer. Der Nebel ist kalt und er wird kälter, der Nebel ist drängend und er wird drängender. Der Nebel ist da und er wird bleiben.
Ich weiß nicht, wovon ich aufgewacht bin. Schummriges Licht strahlt schwach durch die ausgebleichten Gardinen, welche das kleine Fenster vor mir einrahmen. Der Staub glitzert in der stickigen Luft und zieht die Lichtstrahlen der schwachen Wintersonne durch das kleine Zimmer. Alles scheint verzerrt und die Welt ineinander zu verschwimmen.
Ich kneife angestrengt die Augen zusammen und das Bild schärft sich ein wenig. Meine Glieder stimmen in das ächzende Geräusch ein, das der alte Lattenrost von sich gibt, als ich mich mit aller Mühe zur Seite drehe. Aus dem Augenwinkel erkenne ich einen kleinen Nachtisch neben dem Bett. Etwas Helles sticht aus dem tiefdunklen Holz heraus. Unbeholfen taste ich danach. Meine Finger finden sprödes Papier, das sich unter meiner Berührung beinahe auflöst. Der kleine gelbe Post-it scheint schon eine ganze Weile dort auf dem Nachttisch zu kleben. Auf der verstaubten Oberfläche des Holzes hat er klare Konturen gezeichnet und eine feine Staubschicht ziert seine Ränder.
„Die Brille liegt in der Schublade deines Nachtisches.“ Die Schrift ist krakelig und kaum zu erkennen. Es wirkt, als hätte die Hand, die den Federhalter führte, durchweg gezittert. Doch das ist nicht das, was meinen Atem zum Stocken bringt und mein Herz einen Schlag aussetzten lässt. Das, was mir einen kalten Schauer über den Rücken und ein Beben durch den gesamten Körper jagt, ist das simple Wort „dein“. Dein Nachttisch. Ich öffne die Schublade und finde eine feine Brille. Sie passt wie angegossen. Meine Augen wandern in dem fremden Zimmer umher. Die Gardinen scheinen einmal auf den Teppichboden abgestimmt gewesen zu sein und die Möbel stammen wohl aus einer Fertigung. Es wirkt, als hätten hier tausende Erinnerungen ein Zuhause gefunden. Nur nicht meine. Da sind Möbel, alt, zeitweise vergilbt. Alles ist gezeichnet von ihrem schwachen Braun. An manchen Stellen geben die leicht verrutschten Bilder eine Spur eines dunkleren Holzes preis. Eine Erinnerung an eine längst vergangene Zeit.
Das Bild eines kleinen Jungen ragt auf dem Nachttisch auf. Er strahlt mich mit breitem Grinsen an und gibt dabei eine Reihe an Zahnlücken preis. Mit einem Blick auf die unzähligen Bilder kann ich ihn beim Aufwachsen beobachten. Er wird älter, die kindlichen Züge verschwinden, die Zähne sind nachgewachsen, eine junge Frau taucht immer öfter an seiner Seite auf und schließlich sind sie zu dritt. Gelegentlich taucht eine alte Frau auf den Bildern auf. Sie sieht so glücklich aus, als könne kein Wetter der Welt ihre Laune trüben.
Ich frage mich, wer diese Menschen sind. Als ich mich zu dem eingerahmten Bild auf meinem Nachtisch wende, spiegelt sich mein Gesicht in dessen Scheibe. Das von Furchen gezeichnete, vom Nebel getrübte Gesicht. Ich erkenne mich nicht. Ich bin mir fremd. Ich hebe die Brille an, gehe ganz nah an das milchige Glas und kneife die Augen zusammen. Eine gewisse Ähnlichkeit ist nicht zu verkennen. Zu dem Jungen, seiner Partnerin, dem Mädchen. Aber vor allem zu der alten Frau.
Plötzlich überwältigt mich ein Gefühl. Viel mehr eine Gewissheit. Mein altes Ich scheint unter dem Nebel zu verschwimmen, die glückliche Frau scheint vergraben unter einer Schicht des Unwissens, einer erdrückenden Hilflosigkeit.
Schwerfällig erhebe ich mich. Jeder Schritt eine Qual, jede Bewegung eine Überwindung. Ich stehe eine Weile verloren mitten im Raum, dann schleppe ich mich zu dem großen Schrank direkt am Fenster. Ich ziehe an dem Messingknauf und die Tür öffnet knarrend. Die Innenseiten der Flügeltüren sind bedeckt von aneinandergereihten Zetteln.
Es ist kein freier Fleck der braunen Lackierung mehr zu erkennen. Ein Leben auf Papier. Rosa hat einen Sohn und eine Enkelin. Du bist Rosa. Ich streiche über die Buchstaben auf dem kleinen Zettel, die schon langsam ihre blaue Tinte verlieren. Du bist Rosa. Ich wiederhole den Namen, buchstabiere ihn, schreie ihn in mein leeres Gedächtnis und hoffe, dass der Klang irgendetwas auslöst. Irgendeine Regung, irgendeine Erinnerung. Nichts. Plötzlich beginnen meine Finger zu zittern. Ich sehe, wie ich den dunkelgrünen Federhalter in den Fingern halte, ich spüre, wie er sich meiner Hand anpasst und ich fühle die Tränen meine Wange hinab laufen. Ich bin Rosa und ich weiß nicht, wer Rosa ist.