Nie zu wenig, um gut zu sein
Irgendwie hatte ich schon immer den Wunsch, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Ich wusste bloß nicht, wie. Schließlich war ich keine Hexe, die durch einen Schwung ihres Zauberstabes die ganze Welt innerhalb einer Sekunde wieder ins Lot bringen konnte.
Um ehrlich zu sein – an manchen Tagen fühlte ich mich wie die Königin höchstpersönlich. Ich nahm mir vor, eine berühmte Influencerin zu werden und drehte Videos, in denen ich krampfhaft versuchte, über nachhaltige Produkte zu reden. Und ja, ich veröffentlichte sie auf YouTube. Gott sei Dank kam ich einigermaßen schnell wieder zur Besinnung und löschte die Videos, bevor meine Klassenkameraden in deren Genuss kommen konnten.
An anderen Tagen war ich geradezu pessimistisch und war der Meinung, ich als einzelnes Individuum könne sowieso nichts verändern. Eine beschissene Denkweise, ich weiß. Aber zu merken, dass nichts, was ich tat, den Menschen einen Denkanstoß zu geben schien, frustrierte mich.
Schließlich wurde der Zustand der Welt nicht besser: Kriege, Klimawandel, Tierversuche … In den Nachrichten wimmelte es nur so von grausamen Geschehnissen. Ich hätte mein Leben geopfert, um all dem ein Ende zu bereiten, doch da mein Ableben auch nicht zu einer Verbesserung beigetragen hätte, versuchte ich weiterhin erfolglos, nützliche Beiträge auf Instagram zu posten, die genauso wenig Beachtung fanden wie meine Petition gegen transfeindliche Berichterstattung in den Medien.
Und obwohl ich nichts auf der Welt lieber wollte, als diese zu verändern, glich mein Leben an den meisten Tagen dem einer gewöhnlichen Schülerin. Ich wachte morgens um sieben Uhr auf, erschien im besten Fall nur zehn Minuten zu spät zum Unterricht und hörte dem Lehrer mit halbem Ohr zu, während ich mir Strategien überlegte, um der Ungerechtigkeit auf der Welt ein Ende zu bereiten.
Heute war genau so ein Tag. Unser Lehrer hatte den Raum verlassen und ich nutzte die Gelegenheit und machte mir Notizen zu meinem neuesten Projekt: Einem Buch über die Erde und wie sie in Zukunft würde aussehen, sollte sich nicht schleunigst etwas ändern.
»Na Rotschopf, versuchst du wieder, die Welt zu retten?«
Ich fuhr herum und entdeckte Sina und Kai, die scheinbar schon seit einer ganzen Weile hinter mir gestanden und sich angesichts meiner Ideen ins Häuschen gelacht hatten. Die anderen beobachteten das Geschehen von ihren Plätzen aus und kicherten hinter vorgehaltenen Händen.
Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.
»Immer wieder ein hinreißender Anblick, wenn dein Gesicht die Farbe deiner Haare annimmt«, sagte Sina und brach in schallendes Gelächter aus.
Wortlos und mit hochrotem Kopf packte ich meine Sachen zusammen und rannte aus dem Raum.
»Schwänzen macht sich nicht gut auf dem Abi-Zeugnis!«, hörte ich noch jemanden rufen, doch wie immer erwiderte ich nichts, sondern lief mit schmerzhaft pochendem Herzen weiter, bis das Kichern verklang und ich das Schulgelände verlassen hatte.
Endlich allein.
Während ich den Weg zur Bushaltestelle einschlug, verwandelte sich meine Unsicherheit allmählich in Wut.
Warum nur wurde ich dafür bestraft, dass ich der Welt etwas Gutes tun wollte? Vielleicht, weil du bis jetzt stets versagt hast, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf, und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich tatsächlich noch nichts in meinem 19-jährigen Leben erreicht hatte. Weder hatte ich den Klimawandel stoppen, noch Massentierhaltung verhindern können. Ich fühlte mich nutzloser denn je.
Wütend kickte ich einen Stein vor mir her, als ich auf einmal ein Wimmern hörte. Ich sah mich um und entdeckte eine alte Frau mit einem Rollator, die gerade dabei war, aus einem Bus zu steigen. Ihre Hände zitterten und krampfhaft umklammerte sie eine Stange, während sie mit der anderen Hand versuche, ihren Rollator aus dem Bus zu schieben.
Es dauerte nur eine Sekunde, bis ich begriffen hatte, dass niemand der Frau zur Hilfe eilen würde. Und das, obwohl mehrere Leute in dem Bus saßen und haufenweise Passanten vorbeieilten.
Ohne zu zögern rannte ich los, packte den Rollator und setzte ihn auf dem Bürgersteig ab. Dann reichte ich der Frau meine Hände, die sie sogleich in ihre nahm, und gab ihr Halt, sodass sie die Stufe hinabsteigen konnte.
»Ich danke dir«, sagte sie atemlos, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. »Durch Menschen wie dich wird die Welt zu einem besseren Ort.«
Ich sah sie an und aus ihren Augen sprach echte Dankbarkeit.
Und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass es im Leben um etwas ganz anderes geht, als darum, die großen Probleme der Welt alleine zu lösen.
Ich als Individuum kann nur einen kleinen Beitrag zur Verhinderung des Klimawandels leisten. Und das ist okay. Denn ich muss keine Wunder vollbringen, um etwas Gutes zu tun. Manchmal genügen schon kleine Gesten, um einem Menschen ein besseres Leben zu bereiten. Denn egal, wie klein und unbedeutend man sich manchmal fühlen mag:
An jenem Tag habe ich gelernt, dass man nie zu wenig ist, um gut zu sein.