Das Flori-Kommando
Das Knattern der kleinen Zündapp fräst eine Schneise durch die norditalienische Idylle, als wir einer Zypressenallee entlang der Adria entgegenbrettern. Die Sonne hat sich längst in mein Gesicht gebrannt und mein Rücken erinnert sich an jede einzelne Unebenheit der zurückgelegten Landstraße.
Hinter mir sitzt Heinrich, in einer mit Wasser gefüllten Box mit Deckel fest auf den Sitz geschnallt. Heinrich ist ein zu klein geratener Hummer, dem eine halbe Schere fehlt. Mein Batman-Kostüm mit den Muskeln aus Schaumstoff bietet nicht viel Schutz gegen den Fahrtwind, aber die Luft ist warm und mein Umhang flattert fröhlich hinter uns her. Unser Anblick würde uns sicher ein oder zwei Fragen der Carabinieri einbringen, daher ist es gut, dass es nicht mehr weit ist zum Meer und die Straße abgelegen. Ich wäre im Moment auch gar nicht in der Stimmung zu erklären, warum das klapprige Motorrad mehr oder weniger nur ausgeliehen ist und warum ich gerade gar keinen Führerschein habe.
All diese Widrigkeiten sind mir egal, denn wenn ich meinen Kopf nach rechts drehe, sitzt da mein Bruder Flori im Beiwagen. Die vorbeirauschende Landschaft reißt sein Lachen mit sich, trägt es nach oben in den strahlend blauen Sommerhimmel und lässt es als Gluckern, Kichern und Kieksen auf die Wiesen und Felder regnen. Flori hat seine schmalen Augen fest zusammengedrückt, sodass es aussieht, als würden seine Augenbrauen die runden Wangen küssen. Er reißt die kurzen Arme nach oben, das Superman-Kostüm spannt sich fest um seinen Kugelbauch und er grölt den Refrain von „Highway to Hell“ ins venezianische Idyll, denn er liebt AC/DC fast so sehr wie mich. Am liebsten würde ich auch die Arme in den Himmel strecken und freihändig fahren.
Dabei war unser Urlaub anfangs eine ziemliche Katastrophe.
Dass wir zusammen in Italien gelandet sind, haben wir nur der Tatsache zu verdanken, dass mein Vater vergessen hatte, die Backofentür zu schließen. Woraufhin meine Mutter nachts auf dem Weg zum Kühlschrank darüber gefallen ist und sich die Schulter gebrochen hat. Das passierte nur drei Wochen vor ihrem geplanten Urlaub an der Adria. Nun war aber die Ferienwohnung bereits bezahlt und Flori konnte schlecht alleine in Urlaub fahren. Zwar ist mein Bruder Florian bereits 18 Jahre alt, aber er hat ein Chromosom zu viel. Das macht ihn auf keinen Fall zu einem schlechteren Bruder, verkompliziert die Dinge aber doch enorm.
Ich beschloss, anstelle meiner Eltern mit meinem Bruder in den Süden zu fahren. Die Gelegenheit schien günstig, die Semesterferien gähnten vor mir und meine Freundin Johanna musste den Sommer über viel arbeiten. Ich hoffte ein wenig, dass dieser gemeinsame Urlaub den Riss kitten könnte, den mein Umzug in eine andere Stadt vor drei Jahren in die Beziehung zu meinem kleinen Bruder gerissen hatte. Als Kinder waren wir grundverschieden, aber unzertrennlich gewesen.
Womit ich nicht gerechnet habe, war, wie sehr ich mich in den drei Jahren verändert hatte. Ich war jetzt der Erwachsene, war verantwortlich und wollte alles richtig ma-chen. Aber wohin mein Bruder auch reist, er hat das Chaos im Koffer und den Trubel im Rucksack dabei. Ich kam ins Schwitzen, als er im Zug lauthals zur Musik in seinen Kopfhörern mitsang und dabei an die Scheibe trommelte. Es war mir peinlich, als er dem Vermieter unserer Ferienwohnung sagte, die Zimmer riechen wie Tante Gerda unterm Arm. Als er unsere übrigen Wurstbrote an die herrenlosen Katzen der Nachbarschaft verfütterte und ich mitten in der Nacht hochschrak, weil drei kleine Flotaxis durch die offene Tür bis in mein Bett geschlichen waren, schimpfte und fluchte ich laut. Als Flori mitsamt seinen Kleidern in den Brunnen am Stadtplatz sprang, um Münzen zu angeln, schimpfte ich noch mehr. Ich war mir aller Augen bewusst, die das Anderssein meines Bruders bemerkten. Ich hörte das Tuscheln und sah die hochgezogenen Augenbrauen, viele mitleidige Blicke. Was mir früher egal war, legte sich jetzt wie ein enges Korsett um meine Brust, bis es im nächsten Streit aus mir herausbrach: „Kannst du nicht einmal normal sein?!“
Wie eine Pistolenkugel abgeschossen, unmöglich aufzuhalten, traf der Satz meinen Bruder vor die Brust. Aber alles, was Flori erwiderte war: „Ich bin der normalste Mongo der Welt.“ Er stürmte davon und ließ mich beschämt zurück.
Der restliche Nachmittag war still, die Worte geschluckt von unserem Streit, kein Lächeln traute sich auf unsere Gesichter. Abends fand ich Flori auf dem Bürgersteig vor unserem Appartement sitzen, eine kleine Katze auf dem Schoß. Ich setzte mich neben ihn und streichelte das magere Tier. „Es tut mir leid, Flori.“
„Ich hab gedacht, wir hätten mehr Spaß, dass du mehr Spaß mit mir hast. Du lachst fast nie“, seufzte mein Bruder und lehnte seinen Kopf an meine Schulter. „Du bist wie ein langweiliger Erwachsener, du Erbsenkopf.“
„Ich weiß“, flüsterte ich und kitzelte ihn am Arm. „Und selber Erbsenkopf.“
Eine Weile waren wir still, nur das Schnurren des Kätzchens legte sich um unsere Schultern wie ein warmer Schal.
„Anton?“
„Hm?“
„Warum musst du eigentlich bestimmen, was wir im Urlaub machen?“ Floris Augen blickten groß und rund.
„Weil ich der Ältere von uns beiden bin. Und ein bisschen mehr kann als du.“
„Und wenn ich mal das Kommando habe? Hast du dann mehr Zeit fürs Lachen?“
Und so haben wir es beschlossen, an diesem Abend auf dem Bürgersteig in Riva. Dass die restliche Woche über mein Bruder das Kommando haben würde. Dass ich nicht nein sagen würde, welche Pläne er auch ausheckte und wohin es uns auch führte. Dass wir Dinge tun würden, die wir vorher noch nie getan hatten. Zum Beispiel eine Stange Geld ausgeben, um den Straßenkatzen ein Festmahl in 100 Dosen zu bereiten. Einen Eisbecher mit 20 Kugeln bestellen. Die Musik laut aufdrehen und auf unserer Terrasse tanzen. Auf dem Markt den kleinsten Hummer retten, um ihm im Meer die Freiheit zu schenken. Einen Tag lang Superheld spielen, ohne Pause. Einmal fliegen, und sei es nur auf einem geborgten Motorrad auf einer Landstraße in Venetien. Fünf verrückte Tage, in denen sich das Lachen in mir eingenistet hat wie ein Vogel im Nest. In denen das Glück mir fest im Bauch sitzt und keinen Platz machen will für Sorgen und Zweifel und Pläne, die nicht klappen. In denen die Blicke der anderen an mir abperlen oder ich sie zurückwerfe und mein Lächeln verschenke, bis sie es haben wollen. Wie ich es von meinem Bruder gelernt habe.
Und als wir durch die Landschaft knattern, an Pinienwäldern und Olivenbäumen vor-beifliegen, mit einem Hummer im Gepäck, flatternden Polyesterumhängen und AC/DC auf den Lippen, grölt mein kleiner Bruder aus vollem Hals: „Livin’ easy, lovin’ free, season ticket on a one way ride“.
Und ich muss laut lachen, denn ich weiß jetzt, dass ich nicht alles besser kann als er. Spaß haben ist eindeutig seine große Stärke.