Wie früher
Die Kerzen auf dem Altar erhellen schwach den Raum, als Vitória müde vom Beten die armselige aber saubere Hütte durchquert, um sich ein Glas Wasser zu holen. Sie füllt ein weiteres. Vorbei an der Hängematte geht sie schleppenden Schrittes zur Tür, wo ihr Großvater auf einem wackeligen Holzstuhl sitzt. Dankbar trinkt er. Die Hitze liegt lähmend auf dem Dorf. Kein Lüftchen bewegt die Blätter der Palmen zwischen den Hütten. Unverwandt späht der Alte in die Nacht, so als könnte er durch seine Wunschgewalt den aufkommenden Sturm in Nichts auflösen.
Auf dem Weg zurück stellt Vitória das leere Glas auf dem Tischchen vor dem Sofa ab. Sie blickt zum Vorhang, der das Ehebett vom Rest des Raumes trennt und fragt sich, ob sie je wieder glücklich sein wird.
Umständlich lässt sie sich auf dem Schemel nieder und stößt dabei die Vase auf dem Altar um. Entsetzt betrachtet sie die vielen heruntergefallenen Blütenblätter. “Kein gutes Omen!” Und von plötzlicher Panik gepackt, bittet sie: “Yemanja, bring mir meinen Toninho wieder! Ich habe deine Rose aus Versehen zerstört. Sei mir nicht böse!”
“Was ist, Prinzessin?”, will der Alte wissen, der die Unruhe hinter sich bemerkt hat.
“Nichts. Muss morgen früh gleich eine neue Rose für Yemanja holen. Diese hier ist welk.”
Er nickt und lauscht weiter in die dunkle Nacht hinaus. Noch sind die Grillen zu hören.
Vitória spricht wieder mit Yemanja: “Wenn du dir meinen Toninho nicht holst, schenke ich dir zwanzig Rosen. Zwanzig, so alt wie mein Toninho ist!” Sie wundert sich über ihre Worte, denn sie hält nichts von Versprechen. “Du sollst die schönsten weißen Rosen haben. Aber bring ihn mir zurück!” Zärtlich streicht sie mit dem Zeigefinger über das lange blaue Kleid und über den goldenen Stern auf der Stirn der Altarfigur. “Yemanja, du bist die Schönste. Schöner noch als Maria.”
Es gab eine Zeit, da wollte Vitória nichts von Yemanja oder der Heiligen Mutter wissen. Sie war kaum sechs, ein verträumtes Mädchen, das den ganzen Tag mit Muscheln am Strand oder ihrer Stoffpuppe spielte, als eines Morgens das Boot ihres Vaters leer aufgefunden wurde. Einige Tage danach ging ihre Mutter ihn, verrückt vor Sehnsucht und Schmerz, auf dem Grund des Meeres suchen. Da holten die Großeltern sie zu sich. Damals hatte sich das blutende Kinderherz geschworen, immer stark zu sein, egal, was passierte. Vitória lernte, niemals aufzugeben. Nur wenn sie nichts mehr machen kann, lässt sie los und überreicht es höheren Mächten.
“Prinzessin, mehr Wasser!”, meldet sich der Alte.
Vitória wundert sich, dass er sie wieder so nennt. “Wie früher, als ich noch keinen Toninho hatte.”
“Setz dich zu mir”, bittet er. “Solange der Sturm nicht kommt, schaffen sie es vielleicht doch noch.”
Sie holt einen Stuhl, er rückt zur Seite. Schweigend sitzen sie da und lauschen auf die Wellen, die am Ende der Bucht krachend an den Felsen zerschlagen. Im Hintergrund tickt die Uhr ununterbrochen die Zeit voran.
Plötzlich bekommt sie Wut auf Toninho und Filipe: “Ihr Dickköpfe! Ihr wusstet doch, dass es Selbstmord ist, hinauszufahren!” In sarkastischem Ton führt sie den Monolog weiter: “Aber nein, ihr wolltet ja nur schnell nach den Netzen schauen und gleich zurückkommen. Und wo seid ihr? Außerdem, es ist doch scheißegal, ob ihr vor dem Gewitter besonders reichen Fang macht! So ein idiotisches Argument!” Der Ton ändert sich. “Blöder dummer Toninho, du! Komm zu uns! Ich brauche dich! Und dein Sohn wird dich auch brauchen!” Mit einer ärgerlichen Bewegung wischt Vitória die Tränen weg, die sie nicht mehr zurück halten kann.
Auf ihr Bitten erwiderte er: “Keine Angst, mein Schatz, ich bin gleich wieder da.” Anschließend drückte er ihr einen Kuss auf den Bauch. Vitória legt die Hand zärtlich auf die Stelle. “Nie wieder wasche ich mich hier”, denkt sie.
Wieder sieht sie, wie die beiden in der Dämmerung ihr Boot aufs offene Meer richteten. Toninhos Mütze fiel ihm beim Winken aus der Hand, schwamm kurz auf einer Welle und verschwand dann. “Kein gutes Zeichen”, durchlief es Vitória eiskalt. Auch der Alte, der neben ihr am Strand stand, hat es beobachtet und den Kopf geschüttelt.
Als das Boot nicht mehr zu sehen war, sagte er: “Komm, meine Prinzessin.” Es war das erste Mal, dass er sie wieder so nannte. Schweigend waren sie nach Haus gegangen. Er schob seinen Stuhl vor die Tür und Vitória zündete eine Kerze für Yemanja und eine für die Heilige Mutter Gottes an.
Nun wartet sie regungslos. All ihre Sinne sind angespannt. Hoffend. Als die Grillen verstummen, weiß sie. Es ist zu spät.
Der erste Blitz erhellt zuckend die Nacht. Polternd kracht es aus den Wolken. Einer aus dem Sack gelassenen Furie gleich peitscht der Wind tosend den Regen über das Meer und das Dorf. Die Wellen erheben sich erschreckend und ziehen alles mit sich, was ihnen im Weg steht.
“Aus”, denkt Vitória, “nie wieder Toninho.”
Sie rutscht von ihrem Stuhl auf die Knie und senkt den Kopf, damit der Großvater ihr den Segen gibt. Wie früher. Vor Toninho.