Das letzte Wort hat immer der Baum
„Du und deine scheiß Bäume!“, hallte Christians Stimme in ihrem Kopf. „Du musst dich entscheiden. Die Dinger im Topf oder ich.“
Die Scheibenwischer kämpften mit quietschendem Wiiiwupp gegen den prasselnden Regen an. Sabine kniff die Augen zusammen und beugte sich weiter nach vorne. Der Wasservorhang war so dicht, dass sie in der Dunkelheit kaum etwas sehen konnte.
Nur noch sieben Kilometer bis zu dem Ferienhaus, in dem sie mit Christian ihren ersten gemeinsamen Urlaub verbringen würde, obwohl sie sich schon vor drei Jahren kennengelernt hatten.
„Die Dinger im Topf oder ich.“
Der Streit mit Christian war heftig gewesen. Fast, als wäre er eifersüchtig. Dabei war es doch nicht ihre Schuld, dass der lang geplante Workshop bei Konstantin-Bonsai vorverlegt worden war.
Ihr Blick glitt liebevoll zu dem Chinesischen Wacholder auf dem Beifahrersitz. Unter der fachkundigen Anleitung von Felix Konstantin hatte sie endlich eine Totholzgestaltung vornehmen können. Die Kombination aus Jin und der windgepeitschten Form Shakan machte den Baum in ihren Augen perfekt. Sicher hatte sie jetzt gute Chancen beim Deutschen Bonsai-Preis.
Doch während der langen Autofahrt von Künzelsau nach Biersdorf am See hatte ihre Euphorie über den erfolgreichen Workshop nachgelassen und ihre Gedanken kreisten immer wieder um den Streit.
Sie hatten sich schließlich darauf einigen können, dass Christian bereits zum Ferienhaus vorfahren und Sabine direkt vom Workshop aus nachkommen würde. Trotzdem hatten seine Worte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
Hoffentlich wurde er nicht wieder wütend, wenn er sah, dass sie den Baum mitgebracht hatte. Denn obwohl sich zwei Freunde aus dem Arbeitskreis um ihren Bonsai-Garten kümmern würden, wollte sie den frisch entrindeten Wacholder lieber bei sich haben. Es war ihr schon schwer genug gefallen, den übrigen Garten der Obhut anderer zu überlassen.
Noch fünf Kilometer…
Erschrocken riss sie das Steuer herum, als sie plötzlich ein reflektierendes Augenpaar auf der Straße erblickte. Sofort geriet der Wagen ins Schleudern. Hektisch kurbelte Sabine am Lenkrad, während ihr einziger Gedanke dem nichtgesicherten Bäumchen auf dem Beifahrersitz galt.
Das Auto kam von der Straße ab und grub sich in die nasse Erde des angrenzenden Ackers.
Einen Moment blieb Sabine reglos sitzen. Scheißescheißescheiße, dachte sie. Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst, doch als sie endlich auf den Beifahrersitz schaute, stand der Wacholder wie durch ein Wunder auf seinem Platz. Sie legte ihre zitternde Hand auf die weichen Nadelpolster und sofort spürte sie die beruhigende Wirkung, die die kleinen Bäume immer auf sie hatten.
Wiiipwupp machten die Scheibenwischer und der Regen trommelte gleichförmig auf das Autodach.
Sabine atmete tief durch. Sie startete den Motor und gab vorsichtig Gas, aber sofort drehten die Vorderreifen durch und schleuderten eine Schlammfontäne in die Luft.
Sie versuchte es erneut, doch das Auto grub sich nur noch tiefer in den Matsch.
„So ein Mist“, fluchte sie jetzt laut und schlug auf das Lenkrad.
Sie kramte nach ihrem Handy und versuchte, Christian zu erreichen, doch niemand hob ab. Nachdem zum fünften Mal nur die Mailbox ranging, gab sie auf.
Sabine ließ den Kopf nach vorne sinken und merkte, wie ihr das Wasser in die Augen stieg. Ihre Gedanken wirbelten im Kreis, und weinend hing sie über dem Lenkrad, ohne Plan, was sie jetzt tun sollte.
Wiiipwupp.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhigte sie sich endlich und prompt kam ihr eine Idee. Sie stieg aus und versank knöcheltief im Schlamm. Schnell stapfte sie zum Heck. Im Kofferraum befand sich noch ein Paket kleiner Parketthölzchen, die sie für das Display auf ihrer nächsten Ausstellung gekauft hatte. Sie öffnete den Karton und nahm mehrere Lagen der auf Netzen aufgebrachten Holzstäbe heraus. Dann ging sie nach vorne und schob diese vor die Vorderreifen. Bis auf die Haut durchnässt und dreckig, aber mit neuem Mut klemmte sie sich wieder hinters Steuer und ließ erneut den Motor an.
Vorsichtig ließ sie die Kupplung kommen. Das Auto bewegte sich ein Stück nach vorne. Ja! Sabine hoffte, dass sie ausreichend Hölzchen vor den Wagen gelegt hatte, es waren nur wenige Meter bis zur Straße. Die Hinterreifen lösten sich schmatzend aus dem Morast und beherzt trat Sabine das Gaspedal durch. Das Fahrzeug schoss zurück auf die Straße – und knallte auf der anderen Seite gegen den Leitpfosten.
„Wie blöd kann man eigentlich sein“, schrie sie.
Wiiipwupp.
Wütend hieb Sabine auf den Scheibenwischerhebel. Mit einem lauten Knacken brach dieser ab und das Quietschen verstummte.
Fassungslos starrte sie auf das Stück Metall in ihren Händen. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Film. Das Wasser lief in dicken Rinnsalen die Scheibe hinunter und machte eine klare Sicht unmöglich.
Vorwurfsvoll blickte sie auf den Wacholder. Die frische Totholz-Narbe schien im Dunklen zu leuchten.
Kurzentschlossen stieg sie wieder aus. Dann würde sie eben laufen.
Aus dem Kofferraum schnappte sie sich eine alte Einkaufstüte und ging zur Beifahrertür. Vorsichtig stülpte sie die Tüte über den Bonsai und hob ihn aus dem Auto. Ihr Gepäck könnte sie morgen zusammen mit Christian holen, aber den Baum würde sie auf keinen Fall im Wagen lassen.
Den Kopf gesenkt, die Arme schützend um den Wacholder geschlungen, stapfte sie los. Nach einer Weile spürte sie den Regen gar nicht mehr, sie setzte stoisch einen Fuß vor den anderen, einfach nur weiter. Das Wasser lief ihr ins Gesicht und ihre Schuhe gaben bei jedem Schritt quatschende Geräusche von sich. Die Zeit dehnte sich wie Kaugummi, sie hatte das Gefühl, schon ihr halbes Leben durch Regen und Finsternis zu laufen.
Endlich erreichte sie das „Haus am See“. Sie war nur noch ein zitterndes Bündel Elend, die Finger, die die Bonsai-Schale umklammerten, waren taub und ihre kalten Schultern verkrampft.
Sie blinzelte das Wasser aus den Augen, stellte den Bonsai vorsichtig neben die Tür und klopfte. Als keine Reaktion erfolgte, trommelte sie mit den Fäusten gegen das Holz und rief Christians Namen. Drinnen ging das Licht an und sie hörte Schritte. Als sich die Tür öffnete, musterte Christian einen Moment verwirrt die triefende Gestalt vor sich, doch dann erkannte er Sabine und schloss sie erleichtert in die Arme.
„Da bist du ja endlich, ich hatte mir schon Sorgen gemacht, aber ich konnte dich nicht erreichen“, murmelte er in ihre nassen Haare.
Vorsichtig erwiderte sie die Umarmung. „Ich bin ganz dreckig“, schniefte sie.
Liebevoll strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Das macht nichts“, sagte er. „Komm rein. Wo sind denn deine Sachen?“ Fragend blickte er hinter sie.
Sie deutete auf den Bonsai, der unter seiner improvisierten Regenhaube neben der Haustür stand.
„Ich konnte entweder das Gepäck tragen, oder ihn“, erklärte sie, ängstlich vor seiner Reaktion. „Du weißt doch, wie das ist.“
„Jaja, ich weiß“, antwortete er scherzhaft mit den Augen rollend. „Das letzte Wort hat immer der Baum.“