Lavis Entscheidung
Lavi starrte ins Feuer. Sie spürte die Kruste aus Schweiß und Wüstensand auf ihren Wangen. Wie gerne hätte sie sich das Gesicht gewaschen. Doch der Wasservorrat reichte nicht einmal, um ihr aller Überleben über die nächste Woche zu sichern. Vor fast einem Jahr hatten Lavi und ihre Schwester Lejla sich dem kleinen Nomadenstamm angeschlossen. Zuhause war ihnen nichts mehr geblieben – keine Lebensgrundlage, keine Hoffnung. Weite Teile der Landschaft waren unbestellbar geworden. Das Essen und Wasser wurden so knapp, dass es zu immer brutaleren Konflikten gekommen war.
Etwas riss Lavi aus ihren Gedanken. Sie blickte in Amiths dunkle Augen. Sein Gesicht war von den Flammen erhellt. Sie spürte ein Stechen in ihrem Herz. Manchmal fragte sie sich, woher diese wunderbare Wärme in seinen Augen kam in einer Zeit, in der so viele Herzen kalt geworden waren.
Lavi blickte auf ihre Schwester Lejla, die neben Amith im Sandboden saß und den kleinen Haresh an ihre Brust legte. Sie hielt ihn so liebevoll und mütterlich, dass Lavis Augen feucht wurden. Dieser Moment war so friedlich und doch war jeder Tag ein Kampf ums Überleben.
Lavi erinnerte sich, wie sie mit Lejla diskutiert hatte, ob sie sich den Nomaden anschließen sollten. Lejla war zu diesem Zeitpunkt schon im sechsten Monat schwanger gewesen und hatte Bedenken. Doch als Lejlas Mann mehrere Tage nicht mehr von seiner Suche nach Wasser zurückgekehrt war, waren die Schwestern sich schließlich einig gewesen. Sie mussten gehen, um zu überleben.
Lavi erinnerte sich, wie tapfer und unermüdlich Lejla in den letzten Tagen ihrer Schwangerschaft der ungnädigen Hitze zum Trotz einen Fuß vor den anderen gesetzt hatte. Sie duften die Gruppe nicht verlieren. Allein hätten sie keine Chance gehabt. Als Haresh das Licht der Welt erblickte, hatte Amith angeboten, ihn zu tragen. Lavi wusste nicht, warum er das tat, doch sie und Lejla waren gerührt und dankbar. Dieses erste Zeichen, dass der Stamm sie zu akzeptieren schien, gab Lejla neue Kraft. Auf Lavi gestützt lief sie. Für ihren Sohn, das letzte Geschenk der Liebe ihres Lebens.
Lavi spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen. Sie hatten es bis hierher geschafft. Doch nun hatten sie kaum noch Wasser und im Stamm waren sie sich uneinig, wohin sie gehen sollten. Einige meinten sich an einen See weiter östlich zu erinnern. Andere Stimmen äußerten sich kritisch, aus Angst dort in Konflikte oder sogar Kämpfe um das Wasser zu geraten. Immer mehr Menschen hatten sich zu Nomadenstämmen zusammengerottet. Einige hatten mehrere hundert Mitglieder. Manche waren friedlich, andere aggressiv. Am Ende hatten sie alle ein Ziel: zu überleben in einer Welt, deren Klima jede Balance verloren hatte. Lavis Stamm war klein. Sie konnten sich auf keine Auseinandersetzung einlassen.
Lavi wusste, dass Lejla diese Sorgen kannte und doch schien sie die Kraft zu haben, dem kleinen Haresh immer wieder Ruhe zu schenken. Sie beobachtet den liebevollen Blick, den ihre Schwester Amith von der Seite zu warf. Sie wären ein wundervolles Paar, dachte Lavi und spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog. Vielleicht würden sie einiges Tages eins werden, wenn die Vertrautheit wuchs und die Hoffnung, ihren vermissten Mann wieder zu finden, erlosch. Lavi musste schlucken. Sie spürte Amiths Blick auf sich, doch sie wollte ihn nicht erwidern aus Angst, dass ihre Tränen sie verrieten.
Lavi wusste, dass es nur einen Weg gab, um ihr aller Überleben zu sichern. Jeder wusste es, doch keiner sagte es: Einer von ihnen musste gehen, herausfinden, ob es den See noch gab und wer sich dort aufhielt. Zusammen bräuchten sie mehrere Tage zum See – keiner wusste, wie lange genau. Gäbe es dort kein Wasser für sie, wären ihre Wasservorräte erschöpft, bis sie eine andere Quelle fänden. Einer allein konnte das einzige Pferd nehmen, das sie hatten und die Strecke vielleicht in einem oder zwei Tagen zurücklegen.
Trotz des Pferdes war klar, dass nur wenige Stammesmitglieder in Frage kamen. Ganz zu schweigen davon, dass niemand gerne freiwillig den Schutz der Gruppe verließ. Nur Gott allein wusste, was hinter der nächsten Düne auf sie wartete. Lavi war klar, dass sich keiner freiwillig melden würde - außer einem. Ihr Blick wanderte erneut zu Amith, der abwesend ins Feuer zu starren schien. Lavi konnte seine Gedanken förmlich hören. Die Vorstellung, dass er wie Lejlas Mann in die Wüste verschwand und nie zurückkehren würde, schnürte ihr die Kehle zu. In diesem Moment war ihre Entscheidung gefallen.
Bevor sie ins Zelt gingen, sah Lavi Amith lange in die Augen. Wie gerne hätte sie ihn umarmt. Ein leises "Gute Nacht" war das Einzige, was sie über die Lippen brachte. Schnell flüchtete sie auf ihren Schlafplatz, auf dem sie in dieser Nacht kein Auge zu tat.
Und als die ersten Sonnenstrahlen den Sandboden trafen, saß Lavi bereits im Sattel und der Staub wirbelte um die Hufen des Pferdes und klebte sich auf ihre feuchten Wangen.