Müsli Curry Madras
Matilde bezog Stellung - vor dem Gewürzständer, der einen guten Vorwand bot, um im hektischen Treiben des Supermarktes länger stehen zu bleiben.
Als würde sie nach einer Zutat für ein Rezept suchen, nahm sie ein Döschen nach dem anderen aus dem Bord. Aber sie bemerkte gar nicht, ob sie „Koriander“ oder „Grillgewürz mexikanisch“ in den Händen hielt, denn ihr Blick wanderte immer wieder zu dem Regal, das ihr heute helfen würde, das zu finden, was sie eigentlich suchte: ihren Traummann.
Die Zeiten, zu denen sie sich planlos in Kneipen herumgetrieben oder darauf gehofft hatte, auf Partys oder im Fitnesscenter einen Partner zu finden, waren längst vorbei. Matilde wurde nächsten Monat neununddreißig und das Ticken ihrer biologischen Uhr verlangte nach Effizienz. Jedes Date glich mittlerweile einem Vorstellungsgespräch, denn sie konnte ihre Zeit nicht mehr vertrödeln mit Beziehungen nach dem Prinzip: Versuch und Irrtum.
Und nach unzähligen Frühstücken mit ihren Verflossenen wusste sie, woran man den Charakter eines Mannes binnen kürzester Zeit erkennen konnte: an der Wahl seiner Frühstücksflocken.
Matilde hatte das Regal, in dem sich die Cerealien in bunten Pappschachteln stapelten, bestens im Blick. Und sie wusste genau, was sie wollte und was nicht:
Keinen Cornflakes-Typ – ohne eigene Meinung, tut und sagt immer das, was niemanden stört. Auch keinen Kerl, der sich aus vielen Zutaten ein selbstkreiertes Müsli mischt – will alles nach seinen Wünschen gestalten und an der Planung des ersten gemeinsamen Urlaubs zerbricht die Beziehung. Ausgeschlossen war auch der Mann, der sofort nach den neu auf den Markt gekommenen Caramel-Rice-Crispies griff – jagt jedem Trend nach und würde Matilde ebenfalls nach kürzester Zeit durch eine andere Frau ersetzen.
Nein, all das hatte Matilde ausprobiert und ihre leidvollen Erfahrungen und nächtelangen Grübeleien hatten zu dem einen wohlüberlegten Schluss geführt:
Sie suchte ein Schokomüsli.
Jemand der auf seinen Körper achtet, aber den Genuss nicht zu kurz kommen lässt, der kreativ ist und sich traut, einen eigenen Weg einzuschlagen, aber nicht zu sehr aus der Reihe tanzt. Matildes Traummann.
Leider staubten heute die appetitlich hellbraun-blauen Schokomüsli-Packungen wie Lametta an Ostern im Regal. Bisher hatten alle in Frage kommenden Vertreter des männlichen Geschlechts in die falsche Ecke des Regals gegriffen.
Als sie die von ihr selbst festgelegte maximale Verweildauer vor den Gewürzen fast erreicht hatte und zu den weniger günstig gelegenen Fertignudeln wechseln wollte, geschah es: Eine Packung in hellbraun-blau wurde in den Wagen eines ansehnlichen Mittvierzigers befördert.
Matildes Puls beschleunigte sich. Jetzt hieß es dranbleiben! Vor allem kam nun die kritische Phase der weiteren Einkaufswagenanalyse: Jedweder Artikel, der auf eine Frau hindeutete, wie Slipeinlagen oder Weichspüler, ließ Matilde auf Abstand gehen. Ebenso zwei verschiedene Sorten Rasierschaum: Dieser Mann war höchstwahrscheinlich in festen und nicht weiblichen Händen. Kistenweise Billigbier beendete ebenfalls Matildes Annäherungsversuche, denn dies zog unweigerlich ein halbes Dutzend schlecht riechender Freunde in ihr abendliches Wohnzimmer, die in den Werbepausen den Kühlschrank plünderten.
Aber im Einkaufswagen des Müslikäufers erkannte sie nichts Verdächtiges. Matilde beschloss, sich an seine Fersen zu heften.
In diesem Moment stellte sich ihr jemand in den Weg: „Oh, ich sehe, Sie mögen die indische Küche. Hätten Sie ein gutes Rezept für ein Hähnchencurry?“
Matilde stoppte und blickte in zwei dunkelbraune Augen, die sie aus einem dreitagebärtigen Gesicht anblickten.
„Was?“ Nicht jetzt! Ihr Blick fiel auf die ockerfarbene Dose in ihrer Hand. „Curry Madras“ stand in weißer Schrift darauf. Schnell stellte Matilde das Gewürz zurück ins Bord. „Nein… tut mir leid, ich habe keine Zeit…“ Sie sah sich um. Wo war das Schokomüsli geblieben?
„Nun, dafür, dass Sie keine Zeit haben, stehen Sie aber schon sehr lange hier…“
„Na, deshalb habe ich ja keine Zeit mehr“, antwortete sie barsch. Aber beim Weggehen hörte sie ein Lachen. Sie blieb stehen: „Was bitte ist denn so komisch?“
„Nun...“, er bemühte sich offensichtlich, ernst zu werden, „...ich habe Sie nun den dritten Sonnabend in Folge hier wie zur Oscarverleihung aufgebrezelt am Gewürzregal lungern und nach Beute spähen sehen. Jetzt haben Sie anscheinend einen passenden Kandidaten entdeckt und rasen ihm hinterher, als hätte er Ihr Portemonnaie geklaut. Das ist schon amüsant.“
Matildes Mund klappte auf. „Sie haben mir zugesehen? Was sind Sie denn für ein kranker Typ? So eine Art Stalker?“
Er legte die Stirn in Falten: „Ein Stalker? Sie meinen eine von diesen Gestalten, die stundenlang in der Gegend herumstehen und Leute beobachten? Hmm, könnte schon sein, aber Stalking ist nicht mein Fachgebiet, da sollte ich wohl jemanden mit mehr Erfahrung fragen. Kennen Sie zufällig wen?“
Matilde blieb sprichwörtlich die Spucke weg. Und ein weiterer hektischer Blick in den Gang zeigte ihr, dass ihr Auserwählter nicht mehr zu sehen war. Jetzt reicht´s. Matilde stürzte grußlos davon.
Dreimal suchte sie den Kassenbereich ab - erfolglos. Das neue Kleid, das stundenlange Styling, wieder umsonst. Sie blieb an einer der Schlangen stehen und spürte, wie ihr vor Enttäuschung die Tränen in die Augen stiegen.
Um ihre Nerven zu beruhigen, bot der Kassenbereich zwei Möglichkeiten: Entweder kaufte sie sich eine großzügige Auswahl Spirituosen in Miniflaschen und schüttete sich zuhause mit „Kleiner Feigling“ und „Jägermeister“ zu oder sie räumte die auf Kinderaugenhöhe dargebotenen Schokoriegel ab und genehmigte sich zwei, drei zusätzliche Pfunde auf der Waage. Während sie noch die Alternativen abwog, fuhr ihr ein Einkaufswagen in die Hacken.
„Oh, Entschuldigung...“
Ihre unfreiwillige Gewürzregalbekanntschaft stand hinter ihr.
Matilde seufzte: „Können Sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich bin nicht in der Verfassung für Ihre Spitzen. Und wie Sie sehen, ist der Lack mittlerweile ab.“ Sie deutete auf ihre verlaufene Wimperntusche.
Er zückte ein Taschentuch: „Ehrlich gesagt interessiert mich ohnehin mehr, was unter dem Lack ist.“
Wieso sagte die Nervensäge denn solche Sachen? Und wieso ertappte sie sich plötzlich bei der Vorstellung, wie es wohl wäre, wenn er sie mit der gleichen entschlossenen Behutsamkeit umfassen würde, mit der er jetzt die Sechserpackung Hühnereier auf das Kassenband legte? Matilde schüttelte den Gedanken energisch ab.
„Und Sie, ham se gar nix?“ Die Kassiererin sah sie fragend an. Matilde errötete und griff sich reflexartig ein halbes Dutzend Schokoriegel und ein paar von den kleinen Spirituosenflaschen. Offensichtlich keineswegs überrascht über die Auswahl scannte die Kassiererin die Waren und verkündete: „Vierzehnachtunsiebzich.“
Zu spät fiel Matilde ein, dass sie kein Geld dabeihatte, da sie ja gar nicht vorgehabt hatte einzukaufen.
„Das übernehme ich...“, der braunäugige Rezeptsucher zückte bereits seine Brieftasche, „…allerdings muss ich auf einer Gegenleistung bestehen.“
Matilde starrte ihn an: „Vergessen Sie´s!“
„14,78… oder soll ich das stornieren?“ Die Kassiererin wirkte gelangweilt. Ganz im Gegensatz zu dem halben Dutzend Kunden in der Warteschlange, die bei dem Reizwort „stornieren“ anfingen zu pöbeln. Matilde spürte, wie die Röte in ihrem Gesicht sich vertiefte. Sie nickte widerwillig. Ihr anhänglicher Geldgeber bezahlte, aber ließ nicht locker: „Ein Kompromiss zur Güte. Sagen wir morgen Abend um 19 Uhr bei mir? Hainbucheneck 12, Steffens. Ich versuche mich an einem Curry und Sie…“, er deutete auf Matildes Einkauf, „…Sie bringen das mit. Die Riegel, falls das Essen nicht schmeckt und die kleinen Tröster, falls die Gesprächspausen zu lang werden.“
Während er sprach, verstaute er seine Einkaufsartikel in Tüten. In diesem Moment fiel Matildes Blick auf eine hellbraun-blaue Müslipackung, die er eben in eine Papiertüte schob. Er drehte sich zu ihr um. Seine Augen blitzten schokobraun.
Matildes Mundwinkel zuckten: „Sie haben gewonnen, Herr… Steffens.“
„Victor“, ergänzte er.
Matilde lachte: „Das passt ja.“