Zimmer Eins
Alle Studenten nannten das Zimmer mit dem Nummernschild Eins im Keller meiner Universität den Raum der Antworten. Seit Jahren blieb es samt verspiegelten Kellerfenstern verschlossen. Aber es gab Studenten, die eingebrochen waren und die, so hieß es, während einer Nacht in Zimmer Eins erleuchtet wurden. Doch keiner von ihnen sagte je, was sich in dem Raum befand.
Es gab Spekulationen. Zimmer Eins sei ein alter Chemieraum, geschlossen aufgrund von Substanzen in der Luft, die die Wahrnehmung veränderten. Andere gingen sogar so weit zu behaupten, Gott selbst befände sich in Zimmer Eins. Es gab viele Gerüchte, aber in einer Sache stimmten sie überein: Wer eine Nacht lang in Zimmer Eins weilte, erhielt Antwort auf die drängendste Frage seines Herzens.
Ich hätte mich nicht weiter mit den Gerüchten beschäftigt – hätte mich zu der Zeit nicht auch eine Frage geplagt. Ich studierte Medizin, weil ich der einzige Abiturient in einer ärmlichen Familie war und mir vorgenommen hatte, viel Geld zu verdienen. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mir das Studium der Medizin unangenehm werden könnte. Bei dem Anblick von Blut fingen meine Hände an zu zittern, und das Lernpensum raubte mir den Schlaf.
Stattdessen zog es mich zur Philosophie, zu Diskussionsrunden auf dem Campus, zu Büchern mit antiken Texten. Doch die Berufsaussichten waren schlecht. Es war ein Dilemma.
Ich beschloss, im Raum der Antworten nach Rat zu suchen.
Ich hatte mich bereits auf dem Campus umgehört und es hieß, im Sekretariat befände sich ein Schlüssel zu Zimmer Eins. Doch als ich dort ankam, zwanzig Minuten vor Sprechstundenschluss, war ich nicht allein.
Am Tresen wartete eine Mitstudentin von mir auf die Sekretärin.
„Wo ich dich schon treffe“, sagte sie. „Wie bereitest du dich für den Präparierkurs morgen vor?“
„Morgen?“, fragte ich. „Nicht morgen in einer Woche?“
„Nein“, sagte sie. „Wir fangen morgen an, hast du das nicht mitbekommen?“
Mir schossen Bilder von regungslosen Menschen, blutbeschmierten Handschuhen und Skalpellen durch den Kopf. Meine Hände zitterten. Ich musste mich heute zwischen Medizin und Philosophie entscheiden, denn den Stress beim Präp-Kurs konnte ich nur ertragen, wenn ich wusste, dass die Medizin meine Zukunft war. Außerdem wäre es das einzig Faire gegenüber dem Körperspender – sein Dienst war für jemanden gedacht, der anderen mit dem neuen Wissen helfen sollte.
Zwei weitere Studenten betraten das Sekretariat, meine Chance, den Schlüssel in den nächsten zehn Minuten zu finden, geschweige denn zu stehlen, dahin.
Ich eilte hinaus, auf den Rasen vor dem Campus. Zu den Kellerfenstern vor Zimmer Eins. Über mir stürzte die Sonne in ein rotes Wolkenmeer hinab, blutrot wie die Handschuhe vor meinem geistigen Auge. Ich musste hinein. Jetzt.
Ich packte einen losen Backstein neben der Wand, sah mich kurz um – nichts, nur singende Amseln auf dem Weg – und zerschmetterte das Fenster mit einem Wurf. Ich griff einen zweiten Backstein, entfernte mit ihm die zackigen Scherben von den Seiten des Fensters und legte mich auf den Boden. Ich schob meine Füße durch das Loch und robbte bäuchlings rückwärts. Meine Beine hingen ins Leere, dann stieß ich mit den Füßen auf etwas Festes. Als ich sicher stehen konnte, ließ ich los und sah, dass ich auf einem Tisch stand – ich war drin.
Ein mittelgroßer Raum, staubiges graues Linoleum, an zwei Wänden aufgereihte Tische und Stühle, und an einer Seite eine hohe Wand aus Spiegeln. Ich hatte viel erwartet, aber nicht das. Zimmer Eins war ein Spiegelsaal.
Ich ließ mich zu Boden fallen. Die Enttäuschung stach zu, nur ein Spiegelsaal, sonst nichts? Kurz überlegte ich, wieder zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, fühlte mich von den Gerüchten hinters Licht geführt, aber der Schock über den Präp-Kurs morgen klebte mich an den Boden.
Ich starrte meine Augen im Spiegel an, beobachtete den Farbwechsel von Blau, zu Grau, zu Schwarz, als die Schatten durch die Fenster hereinkrochen. Je länger ich mich ansah, desto fremder wurde ich mir.
Als die Sonne untergegangen war, gelang es mir, mich zu beruhigen. Ich wurde still. Als der Mond schwache Lichtstreifen über den Boden schickte, begann ich zu begreifen. Und als ich am nächsten Morgen zum Sonnenaufgang aus dem Fenster kletterte, mit Augenringen und steifen Muskeln von einer durchwachten Nacht in der Kälte, war ich verändert.
Noch am selben Tag meldete ich im Sekretariat meinen Fachwechsel zu Philosophie an. Ich wusste nicht, ob sie mich reich machen würde, aber ich wusste, ich würde glücklicher sein als mit der Medizin.
Später wurde ich oft nach Zimmer Eins gefragt. Ich sagte nie etwas dazu.
Zimmer Eins war nichts, das man übers Erzählen verstand, man musste es selbst erfahren.
Der Raum der Antworten war eine Illusion, eine Geschichte. Dennoch war er wahrhaftig. Zimmer Eins war nur ein alter Spiegelsaal, und doch begegnete ich dort dem Einzigen, der die Antwort auf meine Frage kannte.
In den Tiefen des Spiegels begegnete ich mir selbst.