Der Unfall
Auf den Aufprall, der ihn mit einem heftigen Rückstoß in den Sitz gepresst hatte, folgte eine unwirkliche Ruhe. Rebstock, der den alten, silbernen Mercedes ohne Airbag gefahren hatte, versuchte sich aufzusetzen, aber ein heftiger Schmerz hinderte ihn daran. Der Arzt in der Notaufnahme nannte später eine Diagnose: Fraktur des dritten Lendenwirbelkörpers. In dem Augenblick kurz nach dem Unfall dachte Rebstock aber zuerst an sein Auto. Der Schmerz würde vorübergehen, da verfügte er bereits über einige Erfahrung. Aber einen neuen Wagen würde er sich nicht leisten können. Während er in der Ferne die wellenförmige Tonfolge des Martinshornes hörte, die wie das Summen einer Stechmücke näherkam, wurde ihm noch etwas anderes klar: Man würde ihm den Führerschein wegnehmen. Er war immer ein sicherer Fahrer gewesen, aber jetzt im Alter von fast neunzig Jahren, sah er nicht mehr so gut und auch seine Reaktionen wurden langsamer. Das wäre das Ende!
Die Fahrertür wurde geöffnet und er wurde vorsichtig aus dem Wagen gehoben. Der Schmerz schoss in sein linkes Bein und mit dem gequälten Schrei kam die Ohnmacht.
Als Rebstock erwachte, dachte er nur noch an Flucht. Zeit seines Lebens hatte er Ärzte und medizinische Einrichtungen gemieden, was ihm, davon war er überzeugt, viel Leid erspart hatte. Der menschliche Körper konnte viel aushalten, wenn man ein gutes Verhältnis zu ihm hatte und ihn liebevoll behandelte. Dabei hieß liebevoll nicht, dass man ihn vor allem fernhielt, was gefährlich sein konnte. Rebstock rauchte Zigarren und trank gerne und viel. Sport, der viel beschworene Heilsbringer, war ihm zuwider. Aber er sorgte sich um seinen Körper wie um einen Freund und tat alles für ein genussvolles und entspanntes Leben.
Rebstock war im Krankenhaus, das konnte er riechen. Und er lag in einem zu kurzen Bett. Er musste sich orientieren. Vor ihm war eine weiße Wand. Er drehte sich mühsam und stöhnte vor Schmerzen.
„Na, wach?” Die Stimme gehörte zu einem freundlichen, runden Gesicht und einem kräftigen Körper und kam aus dem Bett am Fenster.
Er musste aufstehen. Erst auf die Toilette, dann nach Hause. Natürlich musste er sich vorher anziehen. Er trug nur ein weißes Hemd mit grünen Streifen, offensichtlich Krankenhauswäsche. „Hallo”, sagte er und versuchte sich aufzurichten, „und auf Wiedersehen” krächzte er, weil ihm der Schmerz die Kehle zuschnürte.
Von der Tür hörte er eine Frauenstimme „Machen Sie mal langsam. Sie müssen liegen bleiben”. Eine Ärztin, wie sich herausstellen sollte. „Wir müssen über die Operation reden”.
Für die junge Frau mit den braunen Augen war die Operation an der Wirbelsäule alternativlos. „Oder wollen Sie sich zukünftig tatsächlich so fühlen und bewegen wie ein neunzigjähriger Greis?”, fragte Sie rhetorisch und mit offenkundiger Ironie. Aber Rebstock schüttelte nur den Kopf. Keine Operation! Er hatte sich entschieden.
In den nächsten Tagen versuchte Rebstock, zu Kräften zu kommen und einen schmerzarmen Weg zu finden, um aufzustehen. Er war ein zäher Mann in den besten Jahren und hatte seine Ziele immer mit einer gewissen Starrköpfigkeit verfolgt. Seine Größe und ein athletischer Körperbau waren ihm in die Wiege gelegt worden und hatten ihm dabei ebenso geholfen, wie sein Charm und sein gefälliges Aussehen. Die Pflegekräfte nannten ihn Sean, wie den verstorbenen Darsteller von James Bond und unterstützten ihn, gegen den Willen der Ärzte, bei den Mobilisationsversuchen. Waschen ließ er sich nicht und auch alle anderen pflegerischen Angebote lehnte er freundlich aber bestimmt ab. Mit der Urinflasche kam er gut zurecht und den Stuhlgang unterdrückte er erfolgreich. Aber es ging nicht so voran, wie er erhofft hatte. Der Schmerz war weiterhin stark und seine Beine trugen ihn nur widerwillig, so dass er nicht einmal zum Waschbecken kam, das keine fünf Schritte entfernt war. Das war deprimierend, aber er gab nicht auf.
Nach einer Woche gelang es ihm, mit einem Gehstock bis zur Zimmertür zu humpeln, wo er erschöpft zusammenbrach. In der folgenden Nacht kroch er auf allen Vieren zum Fenster, um von dort in den Garten zu gelangen, aber sein neuer Zimmernachbar alarmierte die Nachtschwester, die ihn zurück ins Bett brachte.
Zwei Tage später war er verschwunden. Seine Habseligkeiten fehlten ebenso, wie die Geldbörse seines Nachbarn und dessen Autoschlüssel.
Niemand hatte seither etwas von ihm gehört. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Einmal meinte eine Oberärztin, ihn auf Teneriffa gesehen zu haben: Groß, mit langen, grauen Haaren und einem attraktiven Gesicht mit Dreitagebart. Der Mann, der Rebstock so ähnlich sah, arbeitete als Surflehrer im Süden der Insel bei El Médano, dort wo der Nord-Ost-Passat am stärksten ist.