Itai Böing aus Berlin

Unter dem ersten Klassenaufsatz, den ich in der ersten Klasse des Gymnasiums geschrieben hatte, stand ein „Ausreichend“. Mir war klar, dass es nun mit den guten und sehr guten Noten in der Grundschule ein Ende hatte. Also nahm ich die Note hin. Meine Mutter jedoch trieb mich an, zum Lehrer zu gehen und zu fragen, wie es zu diesem Ergebnis gekommen sei und was ich machen müsse, um mich zu verbessern. Die Antworten waren eher dünn und ausweichend. Bald schon hatte ich begriffen, dass dieser Lehrer seine Lieblinge hatte, und ich gehörte nicht dazu.
Als ich 40 Jahre alt war, befand ich mich in einer komplizierten Liebesbeziehung. Ohne die Hilfe einer Therapeutin wäre mein weiteres Leben sicher sehr anders verlaufen. In jenen drei Jahren wurde die Arbeit an mir selbst zum Zentrum meines Alltags. Jeweils zur nächsten Sitzung gab Petra mir Hausaufgaben. Tagebuch Schreiben gehörte auch dazu. 
Seit nunmehr fast 40 Jahren nehme ich mir jeden Morgen die Zeit, um über den vorangegangenen Tag schriftlich zu reflektieren. (Abends zu schreiben ist unzweckmäßig; da ist man müde und möchte die Sache schnell hinter sich bringen.)
Ich stelle mir Fragen, wie es mir in bestimmten Situationen ergangen ist. Was habe ich da gefühlt? Geht es mir nun mit meinem gestrigen Verhalten gut? Welche Alternativen hätte ich gehabt? Damit schließe ich die Situation für mich ab. Eventuelle Unzufriedenheit mit mir soll mich nicht weiter belasten.
Nicht jedes Mal – und abhängig von der Tagesform – schaffe ich es, in aller Ausführlichkeit eine solche Rückschau zu praktizieren. Das morgendliche Ritual verlangt auch, ein wenig früher aufzustehen. Übrigens habe ich erst jetzt – ich bin im 80. Lebensjahr – begonnen, alte Tagebücher wieder aufzuschlagen und zu lesen. Die Hauptsache damals war ausschließlich das Aufschreiben – mit dem Nebeneffekt, Schreiben zu einer Alltäglichkeit zu machen.
Wiederholt habe ich bei Begegnungen mit Menschen aus meinem Leben erzählt. Oft mit der Reaktion: „Schreib das auf!“ Dieser Imperativ begleitete mich und ließ mich an Schreibwerkstätten teilnehmen – ohne klares Ziel und ohne unmittelbare Folgen.
Gewirkt hat das Plakat der „Schule des Schreibens“ mit der dreifachen Aufforderung: „Schreib! Dein! Buch!“ Dass ich auch wirklich Kontakt zur Autorenschule aufnahm, schaffte eine detaillierte Anzeige in einer Zeitschrift. War es die der Deutschen Bahn? War es die einer Fluggesellschaft? Ich weiß es nicht mehr. Der entscheidende Punkt war, dass im Programm ein Lehrgang „Biografisches Schreiben“ enthalten war.
Das Paket mit den Studienheften und den anderen Materialien erschien mir wie eine heilige Sendung. – Ich machte mich ans Werk.

Denk- und Schreibanstöße zu den gerade dargestellten Erinnerungsphänomenen erhielt ich durch die Schreibaufgaben und Textbeispiele in den Lehrheften der Schule des Schreibens. Die fand ich für meine Schreibintention optimal ausgewählt und zusammengestellt. Gleiches gilt für die angefügten Einsendeaufgaben.
Jedoch, und das hängt gewiss mit meinem Charakterzug und der somit erlebten Selbstwahrnehmung als unzulänglich nach dem damals abgeschlossenen Lehrgang zusammen: Ich fühlte mich noch nicht bereit für dieses große Projekt. Die telefonisch erfolgte Empfehlung aus Hamburg, mich für einen weiteren Kurs einzuschreiben, hatte vollkommen gepasst.

Den Lehrgang „Kreatives Schreiben für Fortgeschrittene“ nutzte ich zur Bearbeitung autobiografischer Sujets. Hilfreich fand ich, dass nun eine Lektorin kontinuierlich meine weiteren Texte begutachtete und kommentierte. Wieder zeigte sich meine von Unsicherheit geprägte Selbstwahrnehmung. Wenn die Lektorin mir mitteilte, dass Leser und Leserinnen diese oder jene Darstellungsweise bevorzugen oder ablehnen, so fühlte ich mich und mein Schreiben noch weit entfernt von solchen Kriterien. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Menschen eine Buchhandlung betreten, um mein noch in ferner Zukunft liegendes Buch zu kaufen.
Wenn ich nun zurückblicke auf das gesamte Projekt, so scheint Geduld ein wichtiges Element für den Erfolg am Ende gewesen zu sein. Nicht in erster Linie angeeignete Techniken sind es, die sich wie Werkzeuge oder Bausteine einsetzen lassen. Die vielfältigen Aufgaben in den Lehrheften zur Schreibarbeit über einen längeren Zeitraum machen etwas mit der eigenen Fähigkeit. Manchmal denkt man zwar an erlernte Regeln oder übernommene Hinweise. Doch es hat sich insgesamt eine Vervollkommnung der eigenen Schreibqualität ereignet. Beinahe unmerklich hat sich die eigene Schreibkompetenz durch die tägliche Beschäftigung mit Modelltexten und der Abfassung eigener Texte weiterentwickelt.
Für mich möchte ich sagen, dass es nur zu natürlich ist, gegen Ende des Lebens die Niederschrift einer Autobiografie ins Auge zu fassen und zu realisieren. Jedoch hätte ich viel früher mit diesem persönlichen Programm, für andere zu schreiben, beginnen sollen. Nun habe ich die Freude an dieser Tätigkeit entdeckt. Besonders dafür möchte ich allen im Team der Schule des Schreibens von ganzem Herzen danken.

Foto-Itai-Böing

Veröffentlichungen

Cover-Böing-Itai-Dazugehören
Dazugehören: Ein deutsch-jüdisches Leben

(Auto-) Biografie, 228 Seiten
Edition Winterwork

ISBN 978-3989130913
April 2024

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