Single Malt
Orkney Inseln im Norden Schottlands, Ende Oktober
Der Laird von Sandgarth hatte sein Leben auf dem alten Friedhof von Kirkwall ausgehaucht. Den Kopf zur Seite geneigt, die Arme schlaff herabhängend, lehnte sein Oberkörper am windschiefen Grabstein von Ophelia Hall.
Vierundzwanzig war Ophelia gewesen, als sie im Jahr 1895 hier bestattet worden war.
«Gibt es schon erste Spuren, Steve?» Im Schein der Polizeischeinwerfer zog Inspector Malcolm McKay den Reissverschluss seiner Jacke hoch. Die feuchte Kälte an diesem nebligen Herbstabend kroch ihm die Glieder hoch.
«Delikatesshändler Jamie Stuart hat ihn gefunden», erwiderte Police Officer Steve Fraser, «das Opfer stürzte mit dem Kopf auf den Grabstein und brach sich dabei das Genick.»
«Unfall?» fragte McKay.
Sein Kollege schüttelte den Kopf.
«Da hat einer nachgeholfen. Die Leiche hat massive Würgemale am Hals. Auf dem Grab fand offensichtlich ein Kampf statt. Die Spurensicherung hat Schuhabdrücke von zwei Individuen festgestellt. Die kleineren gehören zu Sandgarth, die mit Größe dreizehn dürften vom Täter stammen.»
«Guten Abend meine Herren, was ist hier passiert?»
Das Gebetbuch unter den Arm geklemmt, gesellte sich Reverend John Graham, seines Zeichens Pfarrer in Kirkwall, zu den Ermittlern.
«Der Laird wurde tot aufgefunden, wahrscheinlich ermordet.» Der Inspector zeigte auf die zertrampelte Grabstelle.
«Ein Mord an diesem Ort des Friedens?» Fassungslos schüttelte Graham den Kopf.
«Hoffen wir, dass der Schuldige bald seiner gerechten Strafe zugeführt wird.» Mit diesen Worten drehte er sich um und ging weiter. Nach wenigen Schritten hatte ihn der Nebel verschluckt.
Es war fast acht Uhr, als McKay sich auf den Heimweg machte. An der Coplands Lane kam ihm der Fischer Bill Murray entgegen.
«N’Abend Inspector, hab’s schon gehört, das mit dem Laird. Na ja, wenigstens haben die Würmer an seinen aristokratischen Überresten was zu fressen.»
McKay blieb stehen und zog sein Notizbuch aus der Jackentasche.
«Sandgarth und Sie waren wohl nicht die besten Freunde.»
«Freunde? Wer den zum Freund hatte, brauchte keine Feinde mehr. Jamie Stuart zum Beispiel …», Murray steckte die Hände in die Hosentaschen, «… musste ihm allerhand lukullische Köstlichkeiten aufs Schloss liefern. Bloß mit dem Bezahlen hatte es der feine Herr nie eilig. Und kennen Sie die Geschichte von Andrew Morgan’s Weide?»
Der Inspector nickte. Morgan, der wortkarge Farmer aus Harray. Sandgarth hatte ihm die Pacht für eine seiner Weiden von einem Tag zum anderen gekündigt. Wahrlich, viele Freunde hatte der Adlige sich zu Lebzeiten nicht gemacht. Er verabschiedete sich von Murray und ging in Richtung Hafen. Sein Kollege Steve konnte den Farmer Morgan befragen. Er selber würde Jamie Stuart einen Besuch abstatten.
Um neun Uhr morgens betrat der Inspector das Delikatessgeschäft in der Castle Road.
Jamie kam hinter dem Tresen hervor und stellte ein kleines Holzkästchen neben die Kasse.
«Sie kommen wegen dem Laird, nicht wahr, Inspector?»
«Ja», antwortete McKay und packte sein Notizbuch aus, «sagen Sie, wie haben Sie eigentlich die Leiche gefunden?»
«Auf dem Weg zum Pub ging ich wie immer durch den alten Friedhof», antwortete Jamie, «da sah ich den Laird an diesen Grabstein gelehnt. Wie eine kaputte Puppe sah er aus.»
«Hatte er Schulden bei Ihnen?»
«Über zweitausend Pfund.»
McKay musterte den schmächtigen jungen Mann. Seine Füße waren zu klein für Schuhgröße dreizehn. Somit kam er als Täter nicht in Frage. Beim Hinausgehen fiel sein Blick auf das Holzkästchen. Glengoyne 30 Years Single Malt Whisky stand in goldenen Lettern darauf. An der Seite klebte ein Preisschild. Der Whisky kostete tausend Pfund.
Er war auf dem Weg zur Polizeistation, als sein Kollege Steve anrief.
«Ich war bei Andrew Morgan», begann er, «er und der Laird sind tatsächlich bös aneinadergeraten wegen der Weide. Und hast du gewusst, dass Ophelia Hall Morgan’s Ururgroßtante war?»
Es hatte angefangen zu regnen. Das Telefon an sein Ohr gepresst, stellte sich der Inspector unter einen Dachvorsprung.
«Sie war Hausmädchen auf Sandgarth Castle», fuhr Steve fort, «wurde vom damaligen Laird schwanger und verlor ihre Stellung. Aus Rache ließ sie den gesamten Familienschmuck der Sandgarth’s mitgehen. Ein paar Wochen später verblutete sie beim Versuch, das Kind loszuwerden.
«Und die Juwelen?»
«Verschollen», antwortete Steve, «sämtliche Suchaktionen waren bisher erfolglos.»
Nachdenklich rieb sich McKay das Kinn. Ophelia Hall, eine Vorfahrin von Andrew Morgan. Möglicherweise hatte sie die Juwelen auf der Farm versteckt. Im Stall oder in der Scheune. Er würde nach dem Lunch selber nach Harray fahren und sich umsehen.
Ein kräftiger Wind wehte vom Meer her, als der Inspector am Nachmittag zurück nach Kirkwall fuhr. Der Besuch auf Morgan’s Farm hatte nichts Neues ergeben. Sein Handy klingelte.
«Ich war bei Sandgarth’s Witwe drüben auf dem Schloss. Sie hat mir einen Brief für dich mitgegeben. Er ist sogar versiegelt», tönte Steve’s Stimme aus dem Lautsprecher.
«Brief? Von wem?»
«Vom Laird. Der war letzte Woche in London. Nach seiner Rückkehr erzählte er seiner Frau, er wisse jetzt, welcher Halunke sich die Juwelen unter den Nagel gerissen hätte. Den Brief hat die Witwe heute Morgen in seinem Sekretär gefunden.»
Es war schon dunkel, als McKay den Vorgarten des Pfarrhauses betrat. An den Büschen kämpften letzte Blätter gegen den Wind. Neben der Kellertreppe stand ein Paar schmutzige Schuhe.
«Inspector, was führt Sie zu mir?» Reverend Graham schien überrascht.
«Es geht um den Mord an Landgarth.»
Der Pfarrer führte ihn in sein Arbeitszimmer und bot ihm Platz in einem der dunkelbraunen Ledersessel an.
Er selber setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
«Eine unselige alte Geschichte», er faltete die Hände, «Ophelia Hall, die sich in die Arme eines wollüstigen Adligen warf, gestohlene Juwelen, ein….»
«Reverend, bitte!» abwehrend hob McKay die Hände, «das Techtelmechtel der beiden ist über hundert Jahre her.»
«Aber deshalb ist es nicht minder verwerflich.» Mahnend erhob Graham den Zeigefinger.
Der Inspector erhob sich.
«Verwerflich ist, dass der Laird gestern auf dem Friedhof ermordet wurde.»
«Nun, er hatte Feinde, die ihn …», Graham überlegte kurz, «… sagen Sie, gibt es eigentlich schon einen Verdächtigen?»
«Ja», McKay stützte seine Hände auf den Schreibtisch, «und ich weiss auch, wo die Juwelen sind. Oder besser, bei wem.»
«Interessant, bei wem denn?»
«Letzte Woche fuhr der Laird nach London, wo er in einem Schaufenster ein Paar Smaragdohrringe sah. Stücke aus dem verschollenen Familienschmuck. Er fand heraus, wer sie dem Juwelier verkauft hatte. Und diesen Namen schrieb er in einem Brief nieder, den er danach versiegelte.»
Stille. Nur die große Standuhr in der Ecke tickte leise.
«Der Name im Brief lautet Reverend John Graham.»
Krachend fiel der Stuhl zu Boden, als Graham aufsprang. «Dieser Dreckskerl! Das ist eine Unterstellung! Eine miese Verleumdung!»
«Sie haben den Schmuck gefunden, wo auch immer», fuhr McKay unbeirrt fort, «und dann haben Sie angefangen, ihn zu Geld zu machen. Stück für Stück. Dumm bloss, dass Sie dem Juwelier die Hehlerware unter Ihrem richtigen Namen anboten. So fand der Laird heraus, dass Sie hinter der Sache steckten.»
Der Pfarrer ging zum Fenster. Sein Gesicht war blass geworden. McKay lehnte sich an eines der Bücherregale.
«Sandgarth wollte Sie gestern auf dem Friedhof zur Rede stellen, nicht wahr? Da haben Sie ihn umgebracht. Und mit Verlaub, Reverend», er atmete tief durch, «Sie sind ein lausiger Verbrecher. Nicht einmal die Schuhe, die Sie bei der Tat trugen, haben Sie geputzt.»
Mit hängenden Schultern sah der Pfarrer hinaus in den Regen.
«Hinter einem losen Stein in der Sakristei fand ich sie», begann er, «Colliers, Ohrringe, Armbänder, sogar ein Diadem. Ich wollte alles dem Laird zurückgeben.»
«Warum haben Sie es nicht getan?» fragte McKay, ohne eine Antwort abzuwarten. «Ich sage es Ihnen, es war Ihre Habgier. Habgier, die Wurzel allen Übels. So steht es doch in der Bibel, nicht wahr, Herr Pfarrer?»
Graham’s Hände zitterten leicht.
«Gestern, ich war auf dem Weg zur Kirche,» murmelte er, «begegnete ich dem Laird. Er stand neben Ophelia’s Grab und brüllte über den ganzen Friedhof wie ein Ochse. Ich sei ein diebischer Pfaffe. Ein betrügerischer Heuchler. Ich lief zu ihm hin, da schlug er auf mich ein. Plötzlich lagen meine Hände um seinen Hals. Dann rutschte er aus ….»
Graham sah dem Inspector in die Augen.
«Ich wollte ihn nicht umbringen.»
«Reverend Graham», McKay wies zur Tür, «ich muss Sie bitten, mitzukommen.»
Der Pfarrer nickte. Dann öffnete er ein kleines Holzkästchen mit goldener Aufschrift, das auf dem Schreibtisch stand. Karamellfarben leuchtete der Inhalt der Flasche, die er herausnahm.
«Gestatten Sie mir ein Glas von diesem großartigen Whisky, bevor wir gehen?»
Der Inspector nickte. «Genießen Sie ihn, Reverend, bis zum letzten Tropfen. Es wird für längere Zeit Ihr letzter Schluck Single Malt sein.»