Septemberblüten
12. August 2002: Nach geschafftem Abitur genieße ich den freien Sommer. Da erreichen mich unglaubliche Nachrichten. Der Dresdner Bahnhof ist überflutet. Die Weißeritz, gewöhnlich ein zahmes Flüsslein, hat einen Teil der Stadt überschwemmt und alles mit sich gerissen: Autos, Häuser, Bäume. Meine Freundin, die am Bahnhof lebt, erzählt mir später, dass sie durch hüfthohes Wasser waten musste, um ihre Wohnung zu verlassen. Und das ist erst der Anfang. Die Elbe hat gerade erst begonnen zu steigen.
In den nächsten Tagen herrscht Ausnahmezustand: Verkehrsregeln haben keine Bedeutung mehr. Überall hört man Sirenen. Schwere Militärhubschrauber evakuieren das Krankenhaus in der Nähe. Ihr Dröhnen ist weit zu hören. Tausende Freiwillige füllen Sandsäcke.
Im Radio heißt es, der Scheitelpunkt sei noch nicht erreicht. Auch Stadtteile fern der Elbe sind vom Rattern der Wasserpumpen und Stromgeneratoren erfüllt. Das Grundwasser drückt in die Keller hinein. Jemand erzählt uns, er habe einen Fisch in seinem Keller gefangen. Wir versuchen Freunde zu erreichen. Geht es ihnen gut? Brauchen sie Hilfe? Nicht alle erreichen wir. Das Telefonnetz bricht zusammen, dann die Kläranlagen. Wir sollen kein Leitungswasser mehr trinken, heißt es. Noch immer steigt das Wasser.
16. August: Ich sitze zuhause herum, fernab der Elbe. Die Sonne scheint. Alles scheint so friedlich, doch ich weiß, dass nur wenige Kilometer weiter Menschen die ganze Nacht gegen die Fluten gekämpft und verloren haben. Schließlich halten mein Bruder und ich es nicht mehr zuhause aus. Vielleicht können wir irgendwo helfen. Wir nehmen unsere Fahrräder und fahren hinunter in den Stadtteil Übigau, der zur Insel geworden ist. Es ist dunkel, als wir ankommen, sehr dunkel, denn der Strom ist ausgefallen. Nur die Blaulichter von Feuerwehr und Polizei durchschneiden die Finsternis.
Wir fragen die Polizisten, die die Brücke kontrollieren, ob wir hinüberdürfen. „Ja“, sagt einer, „aber wir können nicht garantieren, dass ihr wieder zurückkommen könnt.“ Auf der Brücke spüren wir die schwarzen Wassermassen unter unseren Füßen donnern. Es ist kaum noch Luft unter der Brücke. Überall laufen Menschen herum. Wir schließen uns einer Gruppe an, die Helfer zum Befüllen der Sandsäcke sucht. Aber als wir zu der Stelle kommen, wo der Sand liegt, sind die Säcke ausgegangen. Plötzlich steht ein Bekannter vor uns. „Geht nach Hause“, sagt er uns, „sie wollen die Geländer wegsprengen, damit das Wasser über die Brücke fließen kann. Geht jetzt!“ Wir eilen nach Hause, wo wir wieder sitzen und warten und uns hilflos die Pegelstände im Radio anhören. In der Nacht wird Übigau evakuiert. Die Brücke bleibt trotz allem stehen.
27. August: Das Wasser ist zurückgegangen. Wir fahren nach Gohlis, wo das Wasser vielen Häusern bis zum Dach gestanden hat. Die Erleichterung der Menschen darüber, dass das Wasser endlich weg ist, weicht der Verzweiflung. Alles ist zerstört und mit einer stinkenden Schlammschicht bedeckt. Wir verteilen Kaffee und bieten unsere Hilfe an. Die Leute nehmen beides dankbar an.
Auf einem Grundstück helfen wir mit ein paar Freiwilligen im schlammüberzogenen Garten. Alles ist tot und verseucht. Die Laube im hinteren Teil des Gartens hat ihr Dach verloren. Der Besitzer, ein älterer Herr, schiebt stumm und zusammengesunken seine Schubkarre. Wenn wir ihn etwas fragen, reagiert er kaum. Dann kommt seine Frau und bemerkt mich, da ich das einzige Mädchen in der Gruppe bin. Sofort bringt sie mir eine Schutzmaske. Sie redet und redet. Also setze ich mich zu ihr und höre zu. Sie erzählt mir vom Wasser und wie es ihr Haus und den Garten zerstört hat. Ihr Mann ist Professor kurz vor dem Ruhestand. Die Flut hat sein Lebenswerk vernichtet. Ich höre einfach nur zu.
Jeden Tag fahren wir nach Gohlis, wo die Arbeit nie aufhört. Wir schaufeln Schlamm, säubern gerettete Gegenstände, schaffen zerstörte Möbel aus den Häusern, klopfen Putz ab und hören uns Geschichten an. Jeden Tag komme ich nach Hause und weiß den Luxus eines trockenen, sauberen Zuhauses neu zu schätzen.
10. September: Im Garten des Professors stehen die Obstbäume kahl da. Die abgestorbenen Blätter sind abgefallen. Doch neues, zartes Grün wird sichtbar. An einem der Bäume hängen in der Krone reife Äpfel, die unteren Äste stehen in Blüte. Als er uns sieht, kommt der Professor in den Garten gelaufen. Er lacht und ist kaum wiederzuerkennen. „Wisst ihr“, erzählt er uns, „meine Frau und ich wollten schon aufgeben. Wir hatten einfach keine Hoffnung mehr. Aber dann kamt ihr mit den anderen Helfern. Ihr habt uns geholfen, obwohl ihr uns gar nicht kanntet. Da wussten wir: Wir werden es schaffen.“ Er erzählt, er habe nicht geweint als er seine Bücher, seine Skripte und alles andere verloren hat. Aber als wir uns verabschieden, sehe ich Tränen in seinen Augen glänzen. Er schneidet ein paar Zweige mit Kirschblüten ab und gibt sie uns mit. Septemberblüten.