Das erste Einhorn
„Oh mein Gott, Frank, wie kannst du das essen?“ Sabine füllt ihre Backen wie ein Hamster auf Speed mit Weißbrot.
„Scharf? “, frage ich und gratuliere mir mental zu meinem geistesreichen Kommentar.
Ich schlürfe erneut einen Löffel des Green Curries, von dem sie eben gekostet hatte. Heiß? Definitiv. Aber scharf? Seit meiner Covid-Infektion vor drei Monaten ist mein Geschmacksinn so gedämpft, dass sich jede Mahlzeit in meinem Mund in eine Reiswaffel verwandelt. Es ist wohl nicht genug, dass ich mich seither wie ein desorientierter Zombie mit Gliedmaßen aus Blei fühle. Und nun auch noch das mit meiner Stirn...
Ein Kellner schenkt Champagner in Sabines Glas, in dem ursprünglich ein Verlobungsring hätte liegen sollen. Ich kann nahezu fühlen, wie ein anderer, gesunder Frank in einem Paralleluniversum gerade auf demselben Stuhl sitzt und die gemeinsame Zukunft in Sabines Rehaugen blitzen sieht. Ich beneide diesen Frank. Um das mögliche ‹Ja› von Sabine. Um seine Karriere. Um sein Leben. MEIN Leben. Doch mein Körper in diesem Universum gibt vor, ein Sandsack zu sein. Nur unter Einsatz aller Kräfte schaffe ich es, auf dem Stuhl die Balance zu halten.
„Kannst du jetzt bitte endlich diesen albernen Hut abnehmen? Du musst nicht gleich exzentrisch werden, nur weil du dich seit Wochen zu Hause verkriechst.“ Sabine deutet auf den beigen Leinenhut, den ich mir tief über die Stirn geschoben hatte.
„Mir ist es in meinem Zustand halt unangenehm unter Menschen zu gehen“, sage ich. Das ist natürlich ein Ablenkungsmanöver. Darum soll es heute nicht gehen.
„Noch unangenehmer sollte es dir sein, dass dich jemand mit diesem Ding sieht! “ Sie tippt die Hutkrempe mit einem Finger an.
Ich weiche zurück. „Ich find‘ den eigentlich ganz gut–“
Sabine zieht mir den Hut mit einem Ruck vom Kopf.
Sie starrt auf meine Stirn und macht vor Überraschung ein Geräusch, das nach einem erstickenden Meerschweinchen klingt. Ich zähle innerlich die Sekunden, bis sie es schafft, ihre Gefühle mit einem beherzten «What the Fuck?» auf den Punkt zu bringen.
Eine verständliche Reaktion. Man sieht nicht jeden Tag eine Person, der ein Einhorn wächst. Nie, um präzise zu sein. Es gibt keine Einhörner. Zumindest wenn man der einstimmigen Meinung von Google und ChatGPT (die Situation verlangte eindeutig nach einer Zweitmeinung) glauben schenken darf. Ich bin der Erste. Oder das Erste?
„Mein Neurologe vermutet, dass es sich um ein neuartiges Long Covid Symptom handelt. Die Krankheit ist ja kaum erforscht. Nach der Erschöpfung, dem Herzrasen und den Konzentrationsschwierigkeiten, kommt jetzt eben auch noch ein Einhorn dazu. Lucky me!“ Ich bemühe mich, möglichst lässig mit den Schultern zu zucken, als wäre das alles ‹No Biggie›. Meine Finger kratzen automatisch an der Auswuchsstelle des Horns. Es juckt, wenn sich weiteres Wachstum ankündigt.
Die anderen Gäste des Restaurants schielen zu uns herüber und tuscheln wenig dezent.
„Das ist doch nicht echt!“ Sabine sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Ich verdrehe die Augen.
„Am Montag war da doch noch nichts!“ Sabine lehnt sich zu mir und starrt auf das inzwischen rund zwei Zentimeter lange, weißlich glänzende Einhorn.
„Da hab’ ich’s auch noch für einen besonders schmerzhaften Pickel gehalten…“
Vorsichtig fasst sie das Horn an. «Wächst es noch weiter?“
„Nur, wenn ich mich anstrenge. Der Arzt meint, dass es vielleicht auch wieder kleiner wird, wenn ich Ruhe gebe. So wie die anderen Symptome eben.“
„Du hast also wieder gearbeitet?» Sie nimmt ihren strengen Blick an.
„Nur drei, vier Zoom-Calls…“, druckse ich herum.
„Ich sag’ dir seit Wochen, dass du Ruhe geben musst. Ich weiß, deine Beförderung ist dir wichtig, du machst es so aber doch offensichtlich nur noch schlimmer! “
„Ja, ja, ich weiß. Ich hab‘ heute Morgen mit meinem Chef geredet und ihm mitgeteilt, dass ich nun wirklich ‹Off› gehen muss. Er war sehr verständnisvoll!“ Ist ja auch nicht sein, sondern mein Karriere-Suizid.
„Halleluja! War klar, dass dir ein Einhorn wachsen musste, damit du auf dich acht gibst.“
„Es ist halt nicht so witzig, alles zu verlieren, wofür man sein ganzes Leben gearbeitet hat.“
„Nicht alles.“ Sabine legt lächelnd ihre Hand auf meine.
Showtime.
Ich muss mich räuspern, bevor ich die Worte, die ich mir zu Hause penibel zurechtgelegt habe, die sich aber so furchtbar falsch anfühlen, herausbringe.
„Was ich dir heute eigentlich sagen wollte: Ich glaube es ist das Beste, wenn wir unsere Beziehung beenden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du erkennst, dass ich dir nichts mehr bieten kann und du das Weite suchst. Und ich versteh‘ das. Es reicht, wenn dieser bescheuerte Virus ein Leben zerstört!“ Ich sehe sie an und versuche, mir ihre anziehenden, reh-artigen Gesichtszüge ein letztes Mal einzuprägen. Jetzt, da ich ihr die Rettungsleine aus dieser Misere zugeworfen habe, werde ich sie nicht so bald wieder sehen dürfen.
Doch das zarte Reh verwandelt sich in einen Stier, der sein Ziel ins Visier nimmt.
„Danke, dass du mich daran erinnerst, dass ich eine oberflächliche Tussi bin, die bloß wegen deines Geldes mit dir zusammen ist“, zischt Sabine. „Du denkst nur an dich. DEINE Krankheit. DEINE Karriere. DEINE Gefühle.“ Ihre Stimme wird mit jedem ‹deine› lauter und immer mehr Gäste drehen sich ungeniert in unsere Richtung. „Es gibt Menschen, die verlieren ihre Beine und treten dann bei den Para-Olympics an, anstatt in Selbstmitleid zu ertrinken. Doch wenn DIR ein popliges Einhorn wächst, musst du es dir und allen um dich herum NOCH schwerer machen?“
Sie reißt die Serviette von ihrem Schoß, wirft sie vor sich auf den Teller und bringt dabei die Gläser am Tisch und meine Selbstsicherheit zum Wanken. Ich fühle mich wie das Einhorn, das im Film ‹Das letzte Einhorn› vom roten Stier in Richtung Meer gedrängt wird. Nur in meiner Version hier gewinnt der Stier definitiv.
Und ich will nichts mehr, als dass Sabine gewinnt.
Ich will diese Frau nicht gehen lassen.
Und entgegen aller Vernunft, will sie scheinbar auch nicht gehen?
„Du verstehst aber schon, dass mir im besten Fall noch eine Karriere als Kleiderständer bevorsteht?“, sage ich leise.
„Na, dann ist es ja gut, dass ich mein eigenes Geld verdiene und nicht von so einem Arsch wie dir abhängig bin!“, schnauzt sie.
Oh Mann, wie ich diese Frau liebe! Wie bin ich je auf die bescheuerte Idee gekommen, ihr eine Möglichkeit zur Flucht zu bieten? Punktiert das Einhorn mein Gehirn?
Aus einem inneren Impuls heraus rutsche ich von meinem Stuhl und knie mich vor Sabine auf den Boden. Eine Dame hinter uns atmet geräuschvoll ein.
Sabine sieht mit aufgerissenen Augen zu mir herunter.
„Wehe du machst mir jetzt ‘nen Antrag!“
Ich grinse und habe innerlich etwas Mitleid mit dem Frank aus dem Paralleluniversum. Er müsste doch wissen, wie wenig sie vom Heiraten und jeglichem Kitsch hält. Wie wichtig ihr ihre Unabhängigkeit ist.
„Es tut mir ehrlich leid. Ich hab‘ Panik bekommen“, beteure ich. „Ich will mich nicht trennen! Im Gegenteil. Sabine, würdest du mir die Ehre erweisen…“
Sabine schüttelt heftig den Kopf und in ihren Augen sehe ich Panik aufwallen.
Ich bemühe mich betont ernsthaft zu schauen. „… mit mir zusammenzuziehen?“, beende ich den Satz nach einer ausreichend dramatischen Kunstpause.
Sabine hält sich vor Erleichterung eine Hand an die Brust und atmet nervös lachend aus.
„Ich weiß nicht… Mal ganz abgesehen davon, dass du vor fünf Sekunden mit mir Schluss machen wolltest, ist das schon ein großer Schritt–“
„Ich schlag‘ ja nicht vor, dass wir morgen sofort kleine Einhörnchen bekommen. Aber wenn mir etwas durch die ganze Sache hier klar geworden ist, dann, dass ich dich in meinem Leben brauche. Je näher, desto besser!“
Ich sehe ihr an, wie in ihrem Kopf ein komplexer Entscheidungsbaum abgearbeitet wird, und wappne mich innerlich für die Abfuhr. Nach dieser Achterbahn eines Gesprächs kann ich ihr keinen Vorwurf machen.
„Okay“, sagt sie schließlich. «Unter einer Bedingung: Du stehst sofort vom Boden auf!“
Erst jetzt merke ich, wie viel Energie mich die Unterhaltung gekostet hat. Das Aufstehen fühlt sich an, als würde ich mit einem Taucheranzug aus dem Wasser steigen.
„Wirklich?“, sage ich atemlos, als ich es wieder auf meinen Stuhl geschafft habe.
„Ja, wirklich!“, antwortet Sabine lächelnd.
Ich muss mehrmals blinzeln, bis ihre Worte mein Bewusstsein erreichen und sich in eine Welle der Zuneigung verwandeln. Ich kann mich nicht zurückhalten, mich zu ihr zu beugen, ihr Gesicht mit den Händen zu umschließen und sie zu küssen. Ich schmecke den Champagner auf ihren weichen Lippen und für einen Augenblick ist alles OKAY. Das Kartenhaus meines Lebens und meiner Karriere mag zusammenbrechen. Aber unsere zwei Karten stehen noch und an denen kann ich mich für den Moment festhalten.
„Pass auf, dein Horn pikst mich“, flüstert Sabine mit ihren Händen um meinen Hals geschlungen. Von einzelnen Tischen im Restaurant hallt Applaus zu uns herüber. Das erste Mal seit Monaten ist mir zum Lachen zumute.