Eiserne Reserve
Maike stieg aus dem Bus und schaute auf die Uhr. Es war genau fünf nach halb zehn. Um die Zeit war die alte Dame für gewöhnlich mit ihrem Hund Gassi, hoffentlich auch heute. Die Bushaltestelle lag genau gegenüber der Platte, in der Oma Gerda seit Jahrzehnten wohnte. Maike überquerte die Straße und holte den Schlüssel aus ihrer Hosentasche. Den hatte sie sich gerade heimlich besorgt. Sie war spontan mit einer Tüte Brötchen bei ihrer Mutter aufgetaucht und hatte sie zum Frühstück eingeladen. Beim Gehen hatte sie unauffällig den Schlüssel zu Omas Wohnung mitgehen lassen. Ihre Mutter hatte nichts mitbekommen, und das sollte auch so bleiben.
Ein künstlicher Zitrusduft strömte ihr entgegen als sie die Haustür öffnete. Offensichtlich hatte gerade jemand die Hauswoche erledigt. Oma Gerda wohnte in der dritten Etage, ohne Aufzug, was die Achtzigjährige noch erstaunlich gut bewältigte. Maike ging nach oben und hörte plötzlich, wie über ihr eine Wohnungstür geöffnet wurde. Sie blieb stehen und lauschte. Ein Schlüssel rasselte, das Getrippel kleiner Pfoten. Mist, sie war noch da! Lautlos huschte Maike die Treppe wieder nach unten bis in den Keller. Dort versteckte sie sich bis Oma und Rudi aus dem Haus waren. Der alte, fast zahnlose Dackel humpelte gemächlich die Treppe nach unten, das dauerte etwas.
Die Wohnung war wie immer makellos sauber und aufgeräumt. Da sollte es doch ein Kinderspiel sein, die alte Blechdose zu finden. Eine bunte, runde Dose mit Deckel, ursprünglich für Lebkuchen, aber seit Maike sich erinnern konnte, die Aufbewahrung für Omas eiserne Reserve. Sie suchte zuerst in der Küche, öffnete alle Schränke, schob Töpfe und Schüsseln hin und her. Aber die Dose war nicht da. Wo konnte sie noch sein? Vielleicht im Wohnzimmer. Sie überflog das offene Regal, in dem sich Bilderrahmen und lauter Nippes auf weißen Häkeldeckchen aneinanderreihten. Keine Dose, das wäre auch zu offensichtlich. Sie umrundete den großen Esstisch, der fast den ganzen Raum ausfüllte und öffnete nacheinander die Türen und Schubladen der massiven Schrankwand. Keine Dose. Jetzt wurde sie nervös, Omas Spaziergang dauerte ja nicht lange. Sie musste sich beeilen. Sie schloss die Schranktüren mit großen, fahrigen Bewegungen und stieß dabei mit dem Rücken gegen den Esstisch. Etwas polterte. Schnell drehte sie sich um und erfasste das Malheur: Auf dem Esstisch hatte eine Blumenvase gestanden. Das Wasser lief schon über die Tischplatte und tropfte auf den Teppich, die weiße Tischdecke war klatschnass. Auch das noch, sie hatte doch keine Zeit! Sie lief eilig in die Küche und holte eine Rolle Küchenpapier. Damit trocknete sie schnell den Tisch, tupfte hektisch die Tischdecke und den Teppich ab. Dann füllte sie die Vase mit frischem Wasser und stopfte die Tulpen hinein. Das Küchenpapier spülte sie im Klo runter. Was nun? Ihr war heiß und sie spürte, wie ihr Schweiß den Rücken herunterlief. So wird das nichts, sie musste runterkommen und sich konzentrieren.
Maike setzte sich an den kleinen Küchentisch und versuchte, sich zu erinnern. Vor ungefähr fünf Jahren hatte sie an diesem Tisch gesessen und Oma das letzte Mal um Geld gebeten. Sie hatte Mist gebaut. Hatte sich von einem Kommilitonen das Auto geliehen und beim Ausparken eine Laterne gerammt. Alkohol war auch im Spiel gewesen. Der Schaden war überschaubar, aber der Besitzer des Wagens hatte natürlich darauf bestanden, dass sie die Reparatur bezahlte. Chronisch abgebrannt wie sie war, wusste sie sich nicht anders zu helfen als Oma Gerda um Hilfe zu bitten. Mal wieder. Eine Ironie des Schicksals, dass sie ausgerechnet Controllerin geworden war. Ihre Chefin lobte sie sogar in höchsten Tönen und wollte sie als Nachfolgerin aufbauen. An Aufgaben, die ihr bei der Arbeit mühelos gelangen, scheiterte sie im Privatleben kläglich. Wie peinlich ihr das gewesen war. Aber Oma hatte damals nicht mir ihr geschimpft, wie es ihre Mutter getan hätte. Sie stand einfach auf, ging ins Schlafzimmer und holte die alte Blechdose. Natürlich, im Schlafzimmer!
Sie öffnete den Kleiderschrank, tastete hinter den sorgfältig zusammengelegten Hosen und Pullovern, schob Blusen und Mäntel beiseite. Da war sie ja, ganz hinten unten im Schrank. Sie zog den Deckel ab und erblickte zwei lausige Scheine. Dreißig Euro nur! Das würde ja niemals reichen für die Nebenkostennachzahlung, die neue Waschmaschine und die Spezialnahrung für den verdammten Hund. Oma brauchte wirklich dringend eine Finanzspritze. Maike zog ein Bündel aus ihrer Hosentasche und legte es in die Dose. Mit den achthundert Euro waren ihre Schulden zwar immer noch nicht beglichen, aber es sollte erstmal helfen. Oma Gerda hätte das Geld niemals akzeptiert, wenn sie es ihr direkt gegeben hätte.
Sie stellte die Dose zurück und verließ das Schlafzimmer. Schnell überflog sie noch einmal die Wohnung nach Spuren, schob einen Stuhl zurecht, zuppelte ein letztes Mal an der noch feuchten Tischdecke. Das ließ sich jetzt nicht ändern. Sie hoffte einfach, dass ihre Oma es nicht bemerkte.