Nackte Füße
Ich erinnere mich genau daran, wie ihr Genick knackte und an ihren Blick, der plötzlich ganz starr wurde. Immerzu muss ich daran denken, während sich meine nackten Zehen an die Oberfläche des Startblocks schmiegen. Chlorgeruch steigt mir in die Nase. Ich habe sie ermordet. Umgebracht. Einfach so.
Das Podest mit der Nummer 3 scheint zu beben, obwohl es fest im gefliesten Boden unter mir verankert ist. Der raue Belag soll mich daran hindern auszurutschen, damit ich mich nicht verletze.
Wie ironisch, denke ich, ermahne mich aber wieder dazu, konzentriert zu bleiben. Ich muss an mich denken. An das hier. An den Wettkampf.
Rechts von mir erkenne ich die angespannte Miene von Monika. Sie steht inmitten der vielen Menschen, die sich dicht an den Rand des Schwimmbeckens drängeln. Sie jubeln. Kreischen. Obwohl bisher noch kein Startpfiff zu hören war. Ihre aufgeregten Gesichter spiegeln sich in der glatten Wasseroberfläche wieder, sollen mich motivieren. Ich jedoch kann nur daran denken, wie die Wellen, die mein Sprung in nur wenigen Sekunden verursachen wird, all die Augen, Münder und Nasen in hässliche Fratzen verwandeln werden.
Mein Blick wandert nach links, vorbei an meinen Mitstreiterinnen, die ebenfalls ihre Positionen eingenommen haben, und im Gegensatz zu mir das tun, was ihre Trainerin von ihnen verlangt. Immer wieder hat Monika uns eingebläut, dass wir so kurz vor dem Startpfiff unser Ziel nicht aus den Augen verlieren dürfen. Ich soll nach vorne schauen, zum Ende der Bahn. Doch mein Gewissen ist schwer wie Blei. Es erdrückt mich, genauso wie der Anblick des leeren Startblocks, drei Bahnen links von mir.
Ich betrachte das rutschfeste Podest, auf dem als einziges keine nackten Füße zu sehen sind. Keine Füße, die schneller sind als meine. Keine Füße, die so stark sind, dass sie durch das Wasser fliegen. Keine Füße, die einen Sprung ins strahlende Blau wagen werden. Niemals wieder. Wegen mir.
Mein Herz stolpert. Hitze steigt in mir auf und ich sehe, wie Monika mir aufmunternd zunickt. Sie denkt, ich bin aufgeregt. Aufregung ist normal, sagt sie immer. Heute jedoch ist es mehr als das. Die Anspannung ist eine Tarnung. Eine blickdichte Maske, die nicht verrät, was gestern Abend nach der Eröffnungsparty geschehen ist. Die Röte auf meinen Wangen habe ich dem Lampenfieber zu verdanken, und nicht der Tatsache, dass ich an nackte Füße denken muss, die für immer auf dem schlickigen Grund eines von Blaualgen geplagten Badesees versunken sind.
Wir haben uns gestritten. Dann bin ich gegangen. So war es.
Ein langer Pfiff ertönt.
„Auf die Plätze!“ Der männliche Bariton, der quer durch die hell geflieste Schwimmhalle dröhnt, lässt mich erstarren. Startposition einnehmen, sendet mein Gehirn an meinen Körper. Ich gehorche. Die Arme nach vorne gestreckt, gehe ich in die Knie.
Wir haben uns gestritten, dann bin ich gegangen.
Wir haben uns gestritten, dann bin ich gegangen.
„Fertig!"
Ich zwinge mich, nach vorne zu sehen. Augen auf das Ziel. Dann jedoch ist
da wieder mein Gewissen, das an meinen Pupillen zerrt und sie immer weiter nach rechts wandern lässt. Ein Mann mit Schnurrbart und seine Frau stehen im Hintergrund und diskutieren mit einem der Veranstalter. Sie sind aufgebracht, aber nicht wegen des Wettkampfes. Ich sehe die Angst in ihren Blicken. Höre nicht, was sie sagen, doch weiß es eigentlich auch so. Wieso ist der Startblock leer? Wo ist meine Tochter? Jenny würde niemals einen Wettkampf schwänzen. So ist sie nicht.
Ich weiß es nicht!, brülle ich in Gedanken.
Wir haben uns gestritten. Dann bin ich gegangen.
Es platscht. Wassertropfen streifen mein Gesicht. Ich rieche Chlor. Monika schreit.
„Los Anika! Spring!"
Ich gehorche.
Wie ferngesteuert tauche ich ein und kämpfe mich durch den aufgewirbelten Wasserstrom. Augen auf das Ziel. Weiter. Schneller. Einmal falsch geatmet. Wasser in der Lunge. Es schmerzt, aber egal. Alles egal. Ich schwimme weiter, gleite durch die Wellen. Das Brennen in meiner Lunge verstärkt sich, aber auch das geht vorbei. Bald schon werde ich es vergessen haben. Alles werde ich vergessen haben. Ich weiß es genau.
Wir haben uns gestritten.
Dann bin ich gegangen.