Nebenkriegsschauplatz
Der Vater hat heute Geburtstag. Sie sollte endlich anrufen, es ist schon spät. Mühsam zwingt sie sich, die Nummer zu wählen. Eine der wenigen, die sie noch auswendig kennt. Eine der wenigen Konstanten in ihrem Leben. Es war ein schwieriger Tag heute, die Erschöpfung hat sich ihrer längst bemächtigt.
„Hallo? Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Papa!“
lacht sie ins Telefon. Wie immer, wenn sie mit ihm telefoniert, bemüht sie sich um einen euphorischen Tonfall. Dabei ringt sie mit der Schwerkraft um Haltung. Der Vater ist mürrisch. Schnell wird ihr klar, dass er am liebsten gar nicht erst an sein voranschreitendes Alter erinnert worden wäre. Den ganzen Tag über hatte er sich zu Hause verschanzt. Fast ein dreiviertel Jahrhundert Leben – was sollte es daran schon zu feiern geben? Denn mit der Rente war die Langeweile einmarschiert in sein Leben und geblieben wie eine Besatzungsmacht.
Ihre beiden Kollegen waren ohne Vorwarnung erschossen worden. Sie hatten sich einer Straßensperre genähert, alles war friedlich gewesen. Man kannte sie und ihren Wagen in dem fernen Land; schon oft hatten sie diese Sperre passiert. Dann aber hatte ein Soldat beschlossen zu schießen. Die Gründe wird sie nie erfahren. Vielleicht war er einfach nur wütend: Auf sich und sein Leben, das er in einer Uniform an einen Krieg verschwendete, mit dem er doch nichts zu schaffen hatte. Oder erschöpft von der Hitze, dieser unerträglichen Hitze, der er schutzlos ausgeliefert worden war von einem Kommandanten, der ihn schon lange vergessen hatte.
Sie wusste, was man von Ausländern hielt in diesem Land: Sie hatten dort nichts verloren. Der eine der beiden, die der Soldat erschoss, war nicht einmal Ausländer gewesen, er war ein Landsmann wie er. In einem anderen Leben wären sie vielleicht Nachbarn gewesen, der Soldat und er, und ihre Söhne wären in den selben Fußballverein gegangen. In diesem Leben aber, das ahnte sie, hatte der Soldat noch nicht einmal das Geld, um auch nur ein Mädchen aus dem Nachbardorf auf eine Coca Cola einzuladen.
Der andere Kollege, den er erschoss, der war Ausländer. Beide waren sie sofort tot, so lässt man sie glauben. Denn das Krankenhaus, in das man sie vielleicht noch hätte bringen können, war schon vor langer Zeit geplündert und niedergebrannt worden.
„Ach weißt du, andere werden erst gar nicht so alt“,
hört sie sich noch gedankenverloren ins Telefon sagen. Da ringt der Vater bereits empört nach Luft. Das Gespräch verebbt. Seine Einsilbigkeit zwingt sie schließlich zur Kapitulation; sie legen auf.
Unbeweglich bleibt sie noch eine Weile lang stehen. Ein salziger Geschmack im Mund erinnert sie an ihre Tränen. Sie denkt an den einen Kollegen und muss unvermittelt schmunzeln: Er hatte das Talent, sie jedes Mal zum Lachen zu bringen, wenn sie sich sahen. Auf der Karte, die sie für ihn gebastelt hatten vor ein paar Monaten, hatte die Zahl 34 gestanden.