Zwiebelpastete
„Schickste Scheiße, kriegste Scheiße!“ - pflegte seine Mutter früher die Tatsache zu kommentieren, dass er – „der Junge“ – die Margarine, das Mehl oder irgendetwas anderes, was er für sie im Dorfkonsum besorgen sollte, nicht dabei hatte.
Dieses Mal hatte er alles liegen lassen. Als er den Fisch aus dem Kühlschrank nehmen wollte und, da er ihn dort nicht vorfand, Küche und Flur nach dem gestrigen Einkauf abgesucht hatte, wurde ihm klar, dass er den Korb neben seinem Schreibtisch im Institut vergessen haben musste. Heute am Sonntag war das Gebäude verschlossen und die Alarmanlage eingeschaltet. Der unerreichbare Lachs würde seine Kollegen morgen auf sich aufmerksam machen. „Schickste Scheiße, kriegste Scheiße!“
Er schaute hoch zur Küchenuhr. In zwei Stunden würde Isabelle hier sein! Sie hatten sich vor drei Tagen in einer Fortbildung kennengelernt, sich dort gemeinsam gelangweilt und waren nach der Mittagspause einfach in dem Restaurant gegenüber der Uni sitzengeblieben, während die anderen sich weiter in geschlechtergerechtes Sprachhandeln einweisen ließen. Sie hatte nach dem Fischfilet auf dem Fenchelbett noch Hunger gehabt und sich ein Schnitzel bestellt. Während sie aß, hatten sie sich wie zwei alte Bekannte unterhalten und dabei oft so laut gelacht, dass sich die anderen Gäste nach ihnen umgedreht hatten. Statt der üblichen Verabredung ins Kino oder Café hatte er sie in einem Anflug von Vertrautheit zu sich eingeladen, um für sie zu kochen. Zum Mittagessen, nicht abends. Jetzt stand er hier in seiner Küche und hatte weder Fisch noch Fleisch.
Er musste sie anrufen. Sich beim Sprechen die Nase zuhalten, ins Telefon husten. Eine Erkältung, ja. Besser sie träfen sich am nächsten Wochenende.
Er lief aus der Küche ins Arbeitszimmer. Suchte nach seinem Handy. Fand es, ging die Kontakte durch, wobei ihm einfiel, dass sie gar keine Nummern ausgetauscht hatten. Er hatte ihr nur den Weg von der S-Bahn zur Wohnung beschrieben. Ratlos starrte er auf seine Bücherwand.
Vielleicht konnten ihm die Nachbarn helfen? Er lief aus der Wohnung und klingelte bei Ellen und Paul gegenüber. Als niemand öffnete, fiel ihm wieder ein, dass die beiden übers Wochenende an die Ostsee fahren wollten. Die junge Studentin oben hatte mit Sicherheit nichts Brauchbares zum Kochen da und das Ehepaar im Erdgeschoss konnte er unmöglich fragen. Sie, von ihm nur „die Concierge“ genannt, wusste über alles und jeden im Haus Bescheid, nahm die Pakete an, wobei er immer die Phantasie hatte, sie untersuche diese nach ihrem Inhalt, um sie dann sorgfältig wieder zuzukleben. „Die Ampel ist rot, Herr Nachbar!“ - hatte sie ihm neulich empört hinterhergerufen, als er sich anschickte, die wenig frequentierte Straße vorm Haus zu überqueren. „Ja, so rot wie Ihre gefärbten Haare!“, hatte er sich nicht beherrschen können zu erwidern. Seitdem ließ er sich seine Bücher zur nächsten Packstation liefern. „Das haste nu davon! Man muss immer höflich bleiben zu den Leuten!“ - weder sein Alter noch Titel hielten seine Mutter davon ab, ihn über das Leben aufzuklären.
Hektisch lief er zurück in die Küche. Öffnete noch einmal den Kühlschrank. Nahm die Butter heraus, eine angebrochene Flasche mit Sahne, Eier, aus dem Gemüsefach ein kleines, in Folie eingewickeltes Stück Sellerie. Außerdem das Glas mit den eingelegten roten Beeten, das ihm bei seinem letzten Besuch zu Hause aufgedrängt worden war. Im Korb, der über dem Küchentisch hing, fand sich noch ein Netz mit Zwiebeln und ein paar Kartoffeln. „Eine gute Hausfrau kann aus Nüscht was machen!“ Konnte sie nicht einfach mal den Mund halten! Wenigstens in seinem Kopf!
Noch anderthalb Stunden und er hatte keine Ahnung, wie er aus dem spärlichen Vorrat ein Essen für Isabelle bereiten sollte. Es half alles nichts, er musste seine Mutter anrufen. „Na, das ist ja schön, dass der Herr sich auch mal wieder meldet!“ Er beherrschte seinen Impuls sofort wieder aufzulegen und schilderte kurz die Situation. „Tja, was soll ich dazu sagen! Schickste …“ „Mutter!“ unterbrach er sie. „Na schön, was haste denn alles da?“
Sie dachte einen Moment nach. „Mach doch Zwiebelpastete.“ „Und bring deine Isabelle mit das nächste Mal! Der Vati holt euch auch vom Bahnhof ab!“ Er drückte seine Mutter weg und machte sich missmutig an die Arbeit. Schnitt die Zwiebeln in kleine Würfel. Ließ sie in reichlich Butter glasig werden. Mischte den fein geriebenen Sellerie und eine Tasse zarte Haferflocken unter. Verquirlte die Eier mit der Sahne, Salz, etwas Pfeffer und Piment, vermengte die Masse mit dem Rest, gab alles in eine gebutterte und mit Semmelbrösel ausgekleidete Form und schob diese in den Ofen. Er schaute auf die Uhr. Noch eine Stunde. Länger würde die Pastete bei 200 Grad nicht brauchen. Er hatte noch Zeit für die Kartoffeln und das Eindecken. „Das Auge isst schließlich mit!“ vernahm er ein weiteres Mal seine Mutter.
Da klopfte es an der Tür. Isabelle? Jetzt schon? „Herr Dr. Petermüller!?“ Die Concierge! Gestern Abend hatte sie auch schon vor seiner Tür gestanden. Wollte sich wahrscheinlich wieder über irgendein Vergehen seinerseits beschweren. Er schloss so leise wie möglich die Küchentür zum Flur und begann die Kartoffeln zu schälen.
Kurz vor eins. Prüfend ließ er seinen Blick über den Esstisch schweifen. Dann lief er ins Bad und wusch sich noch einmal lange die Hände. Doch ganz wollte der Zwiebelgeruch nicht verschwinden. Was würde Isabelle von ihm denken! Er hatte ihr begeistert von seinen Kochkursen erzählt. Und jetzt servierte er Zwiebelpastete! Nach einem Rezept seiner Mutter!
Aus dem Hausflur drangen Stimmen. Die Concierge hatte Isabelle sicher gesehen, bevor sie klingeln konnte und sie hineingelassen – nicht ohne sie genau in Augenschein zu nehmen und herauszufinden, wem ihr Besuch galt. Er schaute durch den Türspion und tatsächlich erschien Isabelle in seinem Blickfeld. Mit ein wenig zitternden Händen öffnete er die Tür. „Hej!“, sie strahlte ihn an und streckte ihm den Korb entgegen, den sie in den Händen hielt. „Den hat mir deine nette Nachbarin von unten mitgegeben. Du hättest ihn gestern neben dem Briefkasten stehen lassen. Den Fisch habe sie über Nacht in den Kühlschrank gelegt, soll ich dir ausrichten.“ Er starrte sie an. „Darf ich reinkommen? Was duftet denn hier so gut?“